Seejungfrauen kuesst man nicht
worden war, ganze Bände von dem Zeug auswendig zu lernen - Grays Elegy und The Charge of the Light Brigade und außerdem ziemlich taub war, sodass sie nicht immer alles mitbekam und missbilligende Geräusche von sich gab, was die Vorlesenden nervös machte. Eine weitere Quelle des Unbehagens war die niedrige Temperatur im Wohnzimmer: Grannys Haus in Bognor Regis hatte Zentralheizung und wurde gut beheizt, und sie fand die Aversion meiner Mutter gegen Wärme vollkommen unverständlich. Um meinen Eltern gegenüber fair zu sein: Sie ließen sie nicht frieren, sondern hatten ihr Zimmer mit einem elektrischen Ofen mit drei Heizelementen ausgestattet, der einen vibrierenden Ton von sich gab und nach verbranntem Staub roch, und in ihr Zimmer zogen wir uns mit Tee und Plätzchen zurück, um Karten zu spielen.
»Ich bin kein großer Lyrik-Fan«, sagte Granny, während sie die Karten mischte. Wir hockten an ihrem Nachttischchen; ich saß auf dem Bett, sie im Sessel. »Ich persönlich habe immer lieber Romane gemocht. Hast du schon viel Thackeray gelesen?«
»Nein«, sagte ich. Ich war neun Jahre alt.
»Tja, das solltest du aber. Als ich so alt war wie du, hatte ich schon alles von Thackeray gelesen. Hab in der Schule die ganze Nacht mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke geschmökert. Bin dafür regelmäßig geschlagen worden. Hat natürlich meine Augen ruiniert. Das Lesen, meine ich, nicht das Geschlagenwerden. Würdest du nicht gern ins Internat gehen?«
Die Leute sagten oft, wie verschieden meine Mutter und meine Granny waren - eine Bemerkung, die meiner Mutter schmeicheln sollte. Da war etwas Wahres dran: Meine Mutter neigte dazu, Dinge schweigend zu missbilligen; meine Großmutter tat es lautstark. Granny hatte sich bereits in frühen Jahren das Auftreten einer Frau angeeignet, deren Pläne vereitelt worden waren. Als junges Mädchen war ihr Ehrgeiz, Jura zu studieren, von ihren Eltern im Ansatz erstickt worden, die nicht gewillt waren, einer Frau eine Ausbildung zu finanzieren. Stattdessen hatte sie zusehen müssen, wie sie ihr Geld vergeudeten, indem sie ihre drei weniger intelligenten Brüder durch Public School und Universität gebracht hatten, wo sie sich alle drei nicht gerade mit Ruhm bekleckerten. Trotzdem hatte sie einige der Lektionen ihrer Schulzeit verinnerlicht - sie wäre zum Beispiel lieber verhungert als das falsche Besteck zu benutzen - und konnte dank Thackeray und Co. wenigstens behaupten, ihre Nächte sinnvoll verbracht zu haben. Ihre Ehe mit einem älteren Mann aus dem Dorf war nicht glücklich. Meine Großmutter eignete sich nicht für die Ehe, und mein Großvater eignete sich nicht für meine Großmutter. Häuslichkeit lag nicht in ihrer Natur. Sie hatte irgendeine moderne Vorstellung davon, dass Mutterschaft nicht unbedingt Frauenarbeit sein musste, und wenn man als kleines Kind von ihr in zwei Zentimetern kaltem Wasser gebadet worden war, während einem von ihrer Zigarette heiße Asche auf die nackte Haut fiel, neigte man dazu, ihr Recht zu geben. Wild entschlossen, ihre eigene Tochter nicht auf ähnliche Art bestraft zu sehen, hielt sie das Geld zusammen, sparte und übte sich in Verzicht, um sie auf eine gute Schule schicken zu können. Doch sie hatte nicht mit den Launen der menschlichen Natur gerechnet. Was meine Mutter an materiellen Vorteilen genoss, fehlte ihr an Ehrgeiz; sie wollte nichts anderes als ein ruhiges Familienleben und einen kleinen Job, um sich ein wenig Taschengeld zu verdienen.
Ich liebte meine Großmutter, wie es Kinder oft tun, aber ich hatte auch Angst vor ihr. Sie war eine gute Geschichtenerzählerin, und ich konnte mich darauf verlassen, dass sie in jedem Streit für mich Partei ergriff - nur um zu vermitteln und so die Auseinandersetzung unnötig in die Länge zu ziehen. Doch ihre Freimütigkeit und Taktlosigkeit waren legendär. »Was ist denn das für ein schreckliches Geräusch?«, wollte sie einmal wissen, und als sie erfuhr, dass ich gerade Cello übte, sagte sie lachend: »Großer Gott, ich dachte, da wäre eine Katze im Schornstein stecken geblieben.«
Besuche bei ihr zu Hause in Bognor waren ebenfalls eine Tortur, weil wir dort gezwungen waren, nachmittags zum Strand zu gehen, eine Pilgerreise, die mich zwangsläufig den musternden Blicken der Öffentlichkeit und großen Peinlichkeiten aussetzte. Während andere Familien mit ein paar Handtüchern über die Runden zu kommen schienen, bestand unser Gepäck aus einer Kühltasche, einem Deckelkorb,
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