Seejungfrauen kuesst man nicht
Handtüchern, Ersatzhandtüchern, Liegestühlen und Windschutzvorrichtungen, mit denen Vater ein beduinenartiges Lager aufschlagen musste. Während normale Leute sich entkleideten, zog Granny sich immer mehr Schichten über - Mantel, Schal, Wolldecken - und setzte sich grimmig mit dem Gesicht zum Meer, als ob das Ganze ein Test ihrer Charakterstärke wäre.
»Nein, nicht da, Stephen, da. Nicht zu nah bei diesen Leuten. Die haben ein Radio.« Ihre Stimme hallte über den Strand wie die eines Ausbildungsunteroffiziers über den Exerzierplatz. Statt sich eine Strandhütte zu mieten, zogen Mutter und Vater sich mit viel Herumgehopse unter einem selbst gemachten orangefarbenen Frotteezelt mit Gummiband im Halsausschnitt um. Eigentlich zur Tarnung entworfen, machte es den Träger meilenweit sichtbar. Da ich nur ein Kind war, wurde von mir erwartet, dass ich frei von feineren Gefühlen wie Scham war und mit einem Handtuch auskam. Als wir das letzte Mal zusammen am Strand gewesen waren, hatte ich mich im Schutz eines kleinen Handtuchs, das ich mit den Zähnen fest hielt, aus Schlüpfer und Unterhemd gewunden und mir einen Badeanzug erst halb übergestreift, als Granny, durch diese offensichtliche Prüderie bis aufs Äußerste provoziert, bellte: »Ach, um Himmels willen, wozu braucht sie das denn? Es ist ja nicht so, als hätte sie Brüste!«, und mir das Handtuch entriss, um dem gesamten Strand die Wahrheit dieser Aussage zu offenbaren.
An diesem speziellen Abend, während die Damen unten Byron auf den Seziertisch legten, spielten wir »Mach deinen Nachbarn arm«. Granny war eine gefährliche Gegnerin; dass sie mich gewinnen ließ, kam nicht in Frage, und nach zwei Runden schlug sie vor, dass wir um Geld spielen sollten. »Wir spielen normalerweise um Streichhölzer«, sagte ich, doch das wurde mit einem Wedeln ihres Taschentuchs verworfen.
»Geh und bitte deinen Vater um etwas Kleingeld, dann können wir richtig spielen.«
»Herein«, kam auf mein zaghaftes Klopfen Vaters Antwort aus dem Arbeitszimmer. Ich spähte um den Türpfosten - ich wagte mich gewöhnlich nicht in sein Heiligtum. Normalerweise war meine Rolle die des Boten, der ihn zum Mittag- oder Abendessen rief. Natürlich schlich ich mich, wenn er weg war, ab und zu hinein, aber der Teppich war meist mit Papieren, Schulheften, Korrekturen, Stapeln mit maschinengeschriebenen Seiten, Notizen über dies, Übersetzungen von jenem übersät, dass es fast unmöglich war, durchs Zimmer zu gehen, ohne etwas durcheinander zu bringen. Es sah immer aus, als wäre vor kurzem eingebrochen worden.
»Kann ich ein bisschen Kleingeld haben? Granny will mit mir um Geld spielen.«
»Dann hört ihr euch gar nicht die Gedichte an?«
»Wir sind nur bis zur Pause geblieben«, sagte ich. »Granny hat gefroren.«
Er nickte. Über seinen normalen Sachen trug er einen einteiligen Fliegeranzug aus dunkelbraunem Schaffell, die flauschige Seite nach außen, offensichtlich für antarktische Flüge in Flugzeugen entworfen, die oben offen waren, was ihm das Aussehen eines riesigen Teddybären verlieh. Er hatte zwar einen Gasofen im Zimmer, zündete ihn aber nie an, weil er sich weigerte, irgendeinen Komfort für sich selbst zu beanspruchen, auf den Mutter verzichtete.
Er durchsuchte kurz seine Taschen, versuchte aufzustehen, stellte fest, dass er zwischen Kisten voller Papier eingeklemmt war, und sank wieder in sich zusammen. »Ich scheine keins bei mir zu haben«, sagte er. »Versuch es in meiner Jacke - sie ist irgendwo im Schlafzimmer.«
Sie war an die Rückseite der Tür gehängt worden, zweifellos von Mutter. In einer Tasche fand ich nur Kreide - ein paar zerbrochene Stücke und etwas grauen Puder, der unter meinen Fingernägeln hängen blieb, während ich nach Münzen wühlte - und in der anderen war Vaters Brieftasche, die wie das Arbeitszimmer voller Papier war, aber kein Geld beinhaltete. Obwohl es auf den ersten Blick klar war, dass die Brieftasche zu flach war, um Kleingeld zu enthalten, sah ich, ohne mir etwas dabei zu denken, den Inhalt durch. Ich empfand das nicht als Schnüffeln, weil Vater mir mehr oder weniger die Erlaubnis gegeben hatte. Da waren Büchereiausweise und Kontokarten, Briefmarken, alte Quittungen und ein paar Stücke blaues Papier mit Zahlen und Worten wie NETTO und BRUTTO und STEUER drauf. Und in einem Fach hinten steckte ein quadratisches Schwarzweißfoto von einem winzigen Baby in einem Bettchen. Ein Baby, das nicht ich war: Auf der Rückseite standen
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