Seejungfrauen kuesst man nicht

hinterließen. Am Fuß der Senke zog Rad im Abstand von etwa sechs Metern mit dem Fuß zwei Linien. Er und Nicky standen auf einer Seite des Niemandslandes, Frances und ich auf der anderen, und auf »Los« fingen wir an, uns mit Schneebällen zu bewerfen, die so hart wie Glas waren. Bald wich dieser disziplinierte Ansatz der blanken Anarchie - Nicky durchbrach die Linie, stürzte sich auf Frances, riss sie zu Boden und stopfte ihr ganze Hände voll Schnee hinten in den Blazer, bis sie um Gnade schrie. Bei der Aussicht, von Rad auf ähnliche Weise belästigt zu werden, wurde mir vor Aufregung leicht schwindlig, aber aus Höflichkeit, Zurückhaltung oder reiner Gleichgültigkeit beschränkte er sich darauf, schicklich noch ein paar Schneebälle zu werfen, bevor er sich Frances‘ Gegenangriff auf Nicky anschloss, der inzwischen seine Brille verloren hatte und eine leichte Beute war. Erst als ihnen bewusst wurde, dass ich bisher glimpflich davongekommen war und noch zu präsentabel aussah, taten die drei sich zusammen und begruben mich praktisch bei lebendigem Leibe. Nicky und Frances hielten mich fest, während Rad die Schulbücher aus meiner Tasche kippte, sie mit Schnee füllte und über meinem Kopf entleerte. Die nächsten fünfzehn Minuten verbrachten wir damit, nach Nickys Brille zu suchen, die sich verbogen, aber nicht zerbrochen, in einem Loch hinten in Frances‘ Blazer wieder fand. Er wischte den Schnee ab und setzte sie auf, wobei der verbogene Rahmen ihm ein noch komischeres Aussehen verlieh als normalerweise.
    Mit tränenden Augen und wunden Gesichtern humpelten wir nach Hause. Als wir die Hauptstraße erreichten, hatte ich jedes Gefühl in den Fingern verloren, und meine Zehen fühlten sich an wie lose Kieselsteine, die in meinen Stiefeln umherrollten. Ab und zu fiel ein Schneeklumpen aus meinem verfilzten Haar und rutschte schmelzend meinen Hals hinunter. Im Haus war von Mr. und Mrs. Radley nichts zu sehen, aber im Esszimmer hatte jemand Feuer gemacht. Rad legte noch etwas Kohle nach, während Frances Tee und Toast machte, und wir setzten uns vor den Kamin, um uns aufzuwärmen. Frances versuchte mit Nicky zu flirten, wischte ihm den Schnee aus dem Haar und zog ihn wegen seiner Brille auf, und ich betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, um herauszufinden, wie er ohne Akne aussehen würde, bis er es mitbekam und wissen wollte, warum ich ihn so anstarrte.
    »Ach, nichts«, stammelte ich. Ich log schwach: »Ich glaube, ich habe was im Auge« und verließ das Zimmer unter dem Vorwand, es untersuchen zu wollen. Als ich zurückkam, hatten sie offensichtlich etwas ausgeheckt, denn es herrschte ein auffallendes, verschwörerisches Schweigen. Rad spielte mit dem Kaminbesteck, stieß mit dem Schüreisen in die Kohlen, bis das Ende orange glühte. Als ich misstrauisch von einem Gesicht zum anderen sah, stand Rad auf und kam mit dem rot glühenden Schüreisen in der Hand auf mich zu. Ich lachte und wich keinen Zentimeter, bis die Spitze, die inzwischen weiß geworden war, sechs Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war, ich die Nerven verlor und zurückwich. Er ging ohne zu lächeln auf mich los. Als meine Fersen die Wand berührten und Rad mich immer noch verfolgte, zuckte ich zusammen und schloss die Augen, und als ich einen brennenden Schmerz zwischen den Augenbrauen spürte und das Zischen verbrennender Haut hörte, stieß ich einen Schrei aus, der Nicky und Frances aufspringen ließ. Es folgte ein Krachen, als das Schüreisen zu Boden fiel, und als ich die Augen öffnete, stand Rad vor mir, mit schreckerfülltem Gesicht, den Zeigefinger immer noch ausgestreckt.
    »Wieso hast du das getan?«, fragte ich, und die Tränen sprangen mir in die Augen.
    »Abigail. Es tut mir Leid. Ich habe nichts gemacht«, stammelte er. »Oder?«, appellierte er an die anderen. Die drei drängten sich um mich, um mein Brandmal zu untersuchen, während ich einfach dastand, noch zu benommen, um mich zu bewegen.
    »Das ist naturwissenschaftlich unmöglich«, sagte Nicky.
    »Völlig irre«, stimmte Frances zu.
    Es dauerte eine Zeit, bis sie mich überzeugt hatten, dass, was wirklich geschehen war, Folgendes war: Nachdem ich die Augen geschlossen hatte, hatte Rad das Schüreisen gesenkt und mich leicht mit einem Finger auf der Stirn berührt. Aber dort zwischen meinen Augenbrauen - wie ein tilak einer Hindufrau - war eine makellose, runde Verbrennung, die trotz hastiger Anwendung eines in einen Waschlappen gewickelten Eiswürfels