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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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ausgewichen ist.« Diese Aussage wurde mit einem kurzen, frostigen Schweigen aufgenommen. Mr. Radley wurde leicht rot. Rad blickte zu Boden.
    »Willst du damit sagen, du hast Rad in Frankreich fahren lassen?«, sagte Lexi mit einer Stimme, die reines Gift war.
    »Ach Scheiße!«, sagte Mr. Radley.
    »Gut gemacht, Dad«, sagte Rad bitter.
    »Du hast ihn auf französischen Straßen fahren lassen, minderjährig, ohne Führerschein, ohne Versicherung? Wie konntest du so verantwortungslos sein? Was, wenn er jemanden umgebracht hätte?«
    »Er hat mich fast umgebracht«, sagte Mr. Radley verärgert. Niemand ist so entrüstet wie die zu Recht Beschuldigten.
    Nicky und ich wechselten einen verschwörerischen Blick. »Unsere Familien sind nicht so«, besagte er.
    »Es war bloß ein einziges Mal«, sagte Rad. »Und es war sicherer, als Dad in seinem Zustand fahren zu lassen.«
    Bei der Erwähnung von Mr. Radleys Zustand schien Lexis Ärger absoluter Müdigkeit zu weichen; wortlos stand sie auf und ging aus dem Zimmer. Nicky und ich entschuldigten uns und gingen bald danach.

16
    Anfang Dezember hatten wir ein paar Tage Schnee. Frances und ich saßen gerade in der Biologiestunde, als die ersten Flocken am Fenster vorbeitrieben. Die Wettervorhersage hatte schwere Schneefälle prophezeit, und der Himmel hatte schon den ganzen Morgen eine Farbe wie Haferbrei gehabt. Frances war in Ungnade gefallen, weil sie sich geweigert hatte, an der Präparation einer Ratte teilzunehmen; sie hatte fast geweint, als sie die eingelegte Leiche auf dem Hackbrett sah, und darauf beharrt, dass ihr vom Formaldehydgeruch schlecht würde. Deshalb war Frances ganz nach hinten ans offene Fenster verbannt worden, um stattdessen einen Pilz zu zerschneiden, während der Rest von uns sich um Mrs. Armitages Tisch drängte und durch den Mund zu atmen versuchte, um den Gestank des einbalsamierten Nagetiers nicht zu riechen.
    »Ahem!« Mrs. Armitage hielt mit erhobenem Skalpell inne, um Frances zu ermahnen, die das Fenster so weit wie möglich aufgerissen hatte und sich hinauslehnte, um mit der Zunge Schneeflocken aufzufangen. Ein eiskalter Luftzug fegte durch das Labor. Die Sportplätze und Häuser jenseits des Schulgeländes waren bereits vom Schneesturm verhüllt. Frances zog den Kopf zurück und schloss das Fenster vor der Flockenmasse, die herumwirbelten wie Daunen aus einem zerplatzten Kissen. Es schien unmöglich zu sein, dass sich das Zeug legen konnte: Das meiste davon schien nach oben zu fliegen. Am Ende des Nachmittagsunterrichts war die Schule jedoch von einem sechs Zentimeter dicken Schneepelz umgeben. Als wir nach dem letzten Klingeln herauskamen, vor Ehrfurcht schweigend wie Forscher, die den Fuß auf einen neuen Kontinent setzten, sahen wir Rad und Nicky am Tor. Sie begrüßten uns mit einem Schneeballhagel.
    »Was macht ihr denn hier?«, fragte Frances und spuckte Schnee aus.
    »Wir hatten früher Schluss, deshalb dachten wir, wir kommen vorbei und holen euch ab«, sagte Rad und warf einen Schneeball in die Zweige eines Baumes, wo er zerbarst und eine Lawine auf unsere Köpfe auslöste. »Wir können durch den Wald nach Hause laufen.«
    »Dann kannst du genauso gut zum Tee mit zu uns kommen«, sagte Frances zu mir. »Du kannst unsere Hausaufgaben dort erledigen.« Nachdem das entschieden war, zogen wir los, so schnell wie Frances‘ und Rads unzweckmäßiges Schuhwerk es erlaubte. Nicky und ich waren natürlich gut ausgerüstet zur Schule gekommen und trugen Stiefel. Rads Hose war unten schon durchnässt, und Frances‘ Schnürschuhe waren innerhalb von Sekunden durchweicht. Ein paar der älteren Mädchen betrachteten mich und Frances respektvoll, als wir vorbeikamen. Rad war offensichtlich Gegenstand einigen Interesses.
    Schweigend, nur das Knirschen des Schnees unter unseren Füßen war zu hören, nahmen wir den Fußweg zum Wald. Es herrschte das unausgesprochene Einverständnis, dass die Feindseligkeiten erst ausbrechen würden, wenn wir die Felder jenseits der Bäume erreicht hätten. Inzwischen hatte es zu schneien aufgehört, und als wir das oberste Feld erreichten, war der Himmel schon dunkel. Bis hin zum Baumkamm, der den Park von der Hauptstraße trennte, waren die Fußabdrücke eines einzelnen Menschen die einzige Spur. Wir zögerten eine Sekunde, und dann, wie auf ein verabredetes Signal, rannten wir jauchzend und kreischend den Hang hinunter, wobei wir mit den Füßen so viel Schnee aufwirbelten wie möglich und vier tiefe Furchen

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