Seejungfrauen kuesst man nicht
Absätzen einzusinken, fiel mir ein vertrautes Auto auf, das im Schneckentempo die Straße herunterfuhr, die die Gemeindewiese durchschnitt, und auf einem Parkplatz hielt.
»Ist das nicht dein Dad?«, fragte Frances und kniff die Augen zusammen, während ich mich hinter einen Baum duckte und sie mitzog.
»Ich glaube ja«, sagte ich verlegen und ängstlich, ihn bei irgendeinem schrecklichen Betrug ertappt zu haben.
»Was macht er denn?«
»Ich weiß nicht. Verhalt dich ruhig. Was ist, wenn er uns sieht?«
»Er wird dich sowieso nicht erkennen«, sagte Frances vernünftig. »Wir bleiben mal ein bisschen hier und sehen, was passiert.« Zu meiner großen Aufregung schnellte sie immer wieder hinter dem Baum vor und zurück, um mir ‚ Lageberichte zu geben. »Ich glaube, er liest ein Buch«, sagte sie verblüfft. »Er muss auf jemanden warten.«
Nachdem das etwa eine halbe Stunde so gegangen war, ohne dass etwas Belastendes ans Licht gekommen wäre, nahm Frances‘ Begeisterung für Detektivarbeit langsam ab. Die kalte Abendluft machte unsere Beine hochrot und fleckig, und ich verspürte wegen meines marineblauen Schulmantels Reue.
»Er scheint auf niemanden zu warten«, gab Frances schließlich zu. »Er sieht nicht die Straße auf und ab oder so was. Er liest nur.« Als sie das sagte, hörte man das Stottern eines Autos, das angelassen wurde, und der Vauxhall Viva schob sich langsam in den Verkehr und war bald nicht mehr zu sehen. Frances war verwirrt, aber ich hatte etwas begriffen. Wenn Vater verschwand, dann nicht, weil er irgendwo hingehen musste oder sich mit jemandem traf. Er musste nur weg - vom Haus, von Mutter, vielleicht sogar von mir. Allein in der Zurückgezogenheit seines Autos ein Buch zu lesen war die größte Freiheit, die er erreichen konnte.
18
Rads Auftritt als Benedick wurde im Radley-Haushalt als Ereignis von gewisser Bedeutung angesehen. Eine ganze Reihe wurde reserviert, damit eine wachsende Gruppe von Freunden und Angehörigen Platz fand - ich, Lawrence, Clarissa, Bill und Daphne und Lexis verwitwete Mutter Cecile, die sich eine Art aufblasbares Kissen mitbrachte, eingeschlossen. Selbst Mr. Radley hatte sich von der Bewachung der Kekse der Nation einen Abend frei genommen, doch letzten Endes blieb sein Platz leer, genau wie Banquos.
»Wo ist dein Vater?«, flüsterte ich Frances zu, als wir darauf warteten, dass der Vorhang sich hob. Überall um uns herum rutschten Eltern und Freunde der Schauspieler erwartungsvoll auf ihren Sitzen herum, husteten ein letztes Mal und raschelten mit ihren Programmen. Ich hatte sofort die Besetzungsliste studiert. Benedick - Marcus Radley. Ein seltsamer Gedanke, dass es hier vielleicht Leute gab, die ihn als Marcus kannten. Später bewahrte ich das Programm in einer Schuhschachtel mit anderen wichtigen Andenken unter meinem Bett auf - selbst sein gedruckter Name war kostbar.
»Er hat sich im letzten Moment nicht besonders gut gefühlt«, sagte sie. »Er ist zu Hause im Bett.«
Ich wusste, dass sie log, nicht nur wegen der mangelnden Überzeugungskraft, mit der sie diese Erklärung vorbrachte, sondern wegen des Benehmens der gesamten Radley-Gesellschaft. Lexi, flankiert von Lawrence und Clarissa, saß mit dem Gesichtsausdruck einer Person, die entschlossen ist, sich ungeachtet übelster Laune zu amüsieren, starr auf ihrem Platz. Ab und zu griff Lawrence nach ihrer Hand und drückte sie ermutigend, und sie belohnte ihn mit einem zuckenden Lächeln. Bevor ich Frances weiter ausfragen konnte, erloschen die Lichter im Zuschauerraum langsam, und sie drehte sich von mir weg.
Vor Rads erstem Auftritt war ich einen Moment nervös. Würde er gut sein? Würde meine Schwärmerei einer öffentlichen Zurschaustellung von Mittelmäßigkeit standhalten? Glücklicherweise wurde meine Loyalität nicht auf die Probe gestellt: Vom ersten Satz an war klar, dass er ein Naturtalent war. Die blumigsten Lyrikzeilen wurden vorgetragen, als wären sie ihm in diesem Moment gerade erst eingefallen; es schien keine meisterhafte Gedächtnisleistung zu sein. Überall um mich herum spürte ich, wie die Leute sich wachsam, aufmerksam, erleichtert aufsetzten, wenn er auf die Bühne kam. Seine Leistung hatte den bedauerlichen Nebeneffekt, dass der Rest der Besetzung dagegen ziemlich amateurhaft wirkte. Er ließ sie als das aussehen, was sie waren - schauspielernde Schüler, die gewissenhaft ihre Rollen spielten, während er einfach Benedick war. Es war seltsam, der Verwandlung des
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