Seejungfrauen kuesst man nicht
hastig weg und vergrub die Fingernägel in meiner Handfläche, bis meine Augen zu tränen begannen. Neben mir spürte ich ein Zucken, aber ich traute mich nicht, aufzusehen. Während der Andacht zu lachen wurde als Beleidigung Gottes betrachtet.
»Frances Radley und das Mädchen daneben, raus mit euch«, zischte die Direktorin, sobald sie das Podium erreicht hatte. »Wir nehmen unseren Gottesdienst hier sehr ernst!«, fügte sie in drohendem Ton hinzu.
»Das hast nie im Leben du geschrieben«, sagte ich, als wir uns aus der Aula geschlichen hatten.
»Nein«, gab sie zu. »Ich kam schon nach zwei Zeilen nicht mehr weiter, da hat Dad es fertig geschrieben. Ich werde es Nicky anonym zuschicken.«
Nicky bekam bald die Gelegenheit, sich als Mann großer Gesten zu beweisen. Rad war übers Wochenende nach Hause gekommen, und wir vier planten, den Tag in London zu verbringen. Nicky, der direkt aus seinem Studentenwohnheim kam, wollte sich an der Bushaltestelle am Waterloo-Bahnhof mit uns treffen, und wir wollten hinüber zum King‘s College gehen, um in der dortigen Kantine zu Mittag zu essen, und uns dann im Empire einen Film ansehen. Mir war erst an diesem Morgen klar geworden, dass Valentinstag war, weil ich eine anonyme Karte bekommen hatte - wie jedes Jahr, seit ich bei den Radleys ein und aus ging. Ich wusste, dass sie von Mr. Radley war, weil Frances ebenfalls eine bekommen hatte, die in derselben Handschrift an sie adressiert war, die er nicht zu verstellen versucht hatte. Diese Karten sollten uns trösten, weil wir ansonsten ungeliebt waren: Mit sechzehn empfand ich das als Unverschämtheit.
Wir waren ein bisschen spät dran, weil ich mein Cello mitgenommen hatte, als wäre ich auf dem Weg ins Orchester. Meine Eltern sollten nicht wissen, dass ich schwänzte: Sie hatten gerade fünfhundert Pfund für einen neuen Bogen ausgegeben, nachdem der andere zu haaren angefangen hatte, und es hätte vielleicht undankbar gewirkt. Rad stand diesen Maßnahmen typischerweise kritisch gegenüber.
»Sind deine Eltern sehr grausam? Schlagen sie dich?«, fragte er, als er mir zusah, wie ich das Cello im Schrank unter der Treppe neben Lexis Golfschlägern verstaute. »Oder hast du nur gern Komplikationen?«
Als wir aus dem Bus stiegen, war Nicky nirgends zu sehen, also liefen wir los und trafen ihn auf halbem Weg auf der Brücke. Er trug eine teuer aussehende Jacke aus abgewetztem Leder und verschwand fast hinter einem riesigen, sonderbar geformten Paket, ungefähr so groß wie ein pralles Kissen, das in rote Folie eingewickelt war.
»Hallo Köter«, sagte er, als er sich Frances näherte. Rad und ich blickten auf die Themse, während sie sich leidenschaftlich küssten. Das Wasser war dunkelgrau und kräuselte sich wie gehämmertes Metall. Ein Vergnügungsboot, halb leer, fuhr auf seinem Weg nach Greenwich unter uns hindurch. Es war kein guter Tag für Sight-Seeing: Es ging ein scharfer Wind, und ein paar Regentropfen fielen auch schon. Meine Haare wurden heftig vom Wind gepeitscht, deswegen drehte ich sie zu einem Kringel und stopfte sie hinten in meinen Mantel. Der Kuss dauerte immer noch an. Rad gab missbilligende Laute von sich. Passanten fingen an, sie anzustarren. Der Regen wurde heftiger, und überall um uns herum blühten Regenschirme auf. Frances und Nicky lösten sich voneinander. »Ist die neu?«, fragte sie, als sie aus seiner Jacke herauskam. Bei den Radleys wurde Nicky wegen seiner Ausgaben für Klamotten oft aufgezogen. Nur Lexi kaufte sich so viel neue Kleider wie er - und sie brachte sie grundsätzlich zurück, nachdem sie sie einmal getragen hatte.
Nicky fingerte am Revers herum. »Ja. Gefällt sie dir?«
»Soll sie so aussehen?«
»Das ist modern, Frances. Ich weiß, das ist für euch nicht gerade ein vertrautes Wort.«
»Du meinst, Gammellook ist ›in‹? Hey, Rad, pass lieber auf, sonst hält dich noch jemand irrtümlicherweise für einen Modefreak.«
»Ich wusste ja, dass meine Zeit kommen würde«, sagte er.
»Was ist das denn?« Frances, deren Neugier die Oberhand gewann, deutete auf das Paket.
»Oh, entschuldige«, sagte Nicky und riss sich zusammen. Er drückte es ihr in die Hand. »Ich wünsche dir einen schönen Valentinstag.«
Frances rupfte das Papier ab, das ihr der Wind prompt aus der Hand riss. Wir beobachteten, wie es auf die Straße flog, wo es von mehreren Autos überfahren wurde. Der Inhalt des Pakets erwies sich als riesiger weißer Plüschteddybär, der ein rotes Satinherz in
Weitere Kostenlose Bücher