Seejungfrauen kuesst man nicht
eigenem Gutdünken verfahren können. Ein Geheimnis, das man nicht weitererzählen konnte, machte keinen Spaß: Das Vergnügen lag darin, es beiseite zu schaffen und zu sehen, wie es im Wert stieg, bis man Kapital daraus schlagen konnte.
»Am Samstagabend zu Hause. Welche Ehre«, sagte meine Mutter sarkastisch, als ich in den Korridor humpelte. Als Lawrences Jaguar draußen vorgefahren war, empfing ihn von den Bewegungsmeldern an der Vorderseite des Hauses eine Lichtflut.
»Wie auf dem Nürburgring«, murmelte er und schirmte seine Augen ab.
Sicherheit war Mutters neuester Fimmel. Ich war mit einem Schlüsselbund ausgestattet worden, der in keine Tasche passte, und hatte den Code für die Alarmanlage auswendig lernen müssen, die höchstwahrscheinlich nie eingeschaltet würde, weil meine Großmutter immer im Haus war. Vater stand diesen Maßnahmen skeptisch gegenüber. »Wenn es mal brennt, werden wir alle bei lebendigem Leib geröstet«, sagte er immer. »Aber lieber tot als ausgeraubt, nicht wahr, Liebes?« Das nächtliche Geräusch von rasselnden Ketten und vorgeschobenen Riegeln, das Mutters Abschließroutine begleitete, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. »Ich komme mir vor wie der alte Mr. Dorrit im Marshalsea-Gefängnis«, sagte er einmal.
»H-mm. Wonach riechst du?«, fragte Mutter, die sich zu mir beugte, um mich auf die Wange zu küssen.
»Äh ... süßsaures Schweinefleisch? Peking-Ente?«
Sie verzog das Gesicht. Wir aßen nie chinesisch - meine Mutter bekam Migräne davon. »Nein. Zigarettenqualm. Du warst doch nicht etwa im Pub, oder?«
»Nein. Lawrence raucht.«
»Oh. Tja, wenn du nichts dagegen hast, hänge ich deinen Mantel über Nacht in den Windfang, damit er nicht die Garderobe vollstinkt. Du gehst doch nicht etwa hoch in dein Zimmer, oder?«, sagte sie, als mein Fuß die unterste Stufe berührte. »Ich bin mir sicher, dein Dad und Granny würden sich freuen, dich zu sehen. Wir haben dich ja nicht oft am Wochenende hier.«
Im Wohnzimmer ging Vater mit Granny ihre Konten durch. Auf dem Tisch vor ihnen lag ein Haufen Schecks, Steuerquittungen und Bankauszüge. Granny war nicht wohlhabend, aber dank geschickter Verwaltung schlug sie aus ihrer Armut noch Kapital.
»Wo ist denn der Scheck von Cable and Wireless?«, sagte sie, durchwühlte den Haufen und verstreute Papiere, bis mein Vater ihn ihr in die Hand drückte. »Ich kann nicht lesen. Ich bin blind. Was steht drauf?«
»Drei Pfund einundsiebzig«, sagte Vater. Er tippte auf das Hauptbuch. »Das haben wir schon eingetragen.« Seine Brille saß nicht ganz horizontal - ein Zeichen von Anspannung. Sie waren offensichtlich beim zweiten oder dritten Durchlauf.
Mutter hatte Recht. »Abigail«, sagte er und stürzte sich freudig auf die Ablenkung. »Ich hole dir eine Tasse Kaffee.«
»Schön, dich zu sehen, Abigail«, sagte Granny, als er in die Küche floh. »Nicht, dass ich es könnte«, fügte sie hinzu.
Lawrences Prophezeiung bewahrheitete sich, aber nicht ganz so, wie er es sich vorgestellt hatte. Frances und Nicky wurden wirklich ein Paar, und als Rad in den Weihnachtsferien zurückkam, gingen wir zu viert aus oder blieben zu Hause, je nach unserer Finanzlage. Das war jedoch nicht die Erfüllung all meiner Träume, da Rad sich durch den Anblick der großen Romanze, die Frances und Nicky täglich aufführten, nicht aus der Ruhe bringen zu lassen schien und keine Anstalten machte, es ihnen gleichzutun.
Er lief einfach als Nickys Freund und Frances‘ Bruder mit und hatte nicht vor, sich von den Anforderungen der bloßen Symmetrie unter Druck setzen zu lassen. Dieses Arrangement legitimierte jedoch wenigstens meine Anwesenheit. Ohne Rad wären wir ein peinliches Dreigespann gewesen: Ich hatte nicht die Würde, mich zurückzuziehen, und Nicky und Frances hatten nicht das Herz, mir zu sagen, dass ich abhauen sollte. Ich verbrachte die Freitagabende bei den Radleys und ging samstagmorgens rechtzeitig zum Orchester. Frances traf sich samstags mit Nicky, und sonntags wurden wir beide zum Lunch eingeladen. Das bedeutete, dass ich nun meine Samstagabende zu Hause verbrachte: Ich hatte keine anderen Freunde. Ich hatte mich nie darum zu bemühen brauchen - Frances war immer da gewesen. Meine Mutter war bald ebenso bestürzt darüber, dass ich im Haus herumlungerte, wie sie es anfangs über mein Weggehen gewesen war. Sie nahm mein Dilemma als persönlichen Affront, für den Frances verantwortlich war.
»Es ist nicht normal, wenn ein Mädchen in
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