Seejungfrauen kuesst man nicht
die Wand mit orangefarbenen Tröpfchen. »Was ist los?«, sagte sie, dann fiel es ihr ein. »Oh.« Ihre Finger wanderten zu ihren Schultern. »Gefällt es dir nicht?«, fragte sie, da sie die Stimmung des Augenblicks auf verhängnisvolle Weise falsch einschätzte.
»Gefallen? Bist du wahnsinnig?«
Mr. Radley, der den Lärm hörte, steckte den Kopf durch die Tür. »Wer ist wahnsinnig?«
»Schau, was sie gemacht hat. Dreh dich um, Frances.«
Mr. Radley lachte - seine übliche Reaktion auf unbotmäßiges Verhalten von Frances‘ Seite - nicht aus Toleranz oder Gutmütigkeit, sondern weil eine gewisse Freude darin liegt, wenn man seine ohnehin geringen Erwartungen bestätigt sieht.
»Ist dir klar, wie diese hübschen prallen Weintrauben in fünfzig Jahren aussehen? Wie ein Haufen Rosinen. Sehr verführerisch«, sagte er.
»Ehrlich, Frances, mir wäre es, glaube ich, lieber gewesen, wenn du mit ihm durchgebrannt wärest und ihn geheiratet hättest. Das kann man wenigstens rückgängig machen«, sagte Lexi.
»Es wird ja nicht ewig halten«, sagte Frances. »Der Typ im Laden sagte, es wäre nur semi-permanent.«
» Semi- permanent?«, sagte Mr. Radley. »Na, das ist ein interessanter Ausdruck.«
»Ein semi-permanentes Tattoo!«, sagte Lexi. »Das hat er wirklich gesagt?«
»Tja, nicht wortwörtlich«, gab Frances zu. »Ich habe gesagt: ›Das ist jetzt für immer, oder?‹ und er sagte: ›Nichts ist für immer, Schätzchen.‹«
In diesem Moment fing ich Mr. Radleys Blick auf, und wir beide brachen in Gelächter aus, wodurch wir der Konfrontation etwas von ihrer Schärfe nahmen. Das steckte auch Frances an. Nur Lexi verzog keine Miene. Mir war schon früher aufgefallen, dass sie nicht viel Humor hatte: Wenn jemand eine witzige Bemerkung machte, wartete sie, bis es vorbeiging, wie ein Niesanfall, bevor sie mit dem fortfuhr, was sie gerade hatte sagen wollen. Das war eine der wenigen Eigenschaften, die sie mit meiner Mutter gemeinsam hatte.
»Ich nehme an, als Nächstes willst du einen Ring durch die Nase«, sagte Lexi, als ihr klar wurde, dass der Streit beendet war.
»Sie haben Brustwarzen für fünf Pfund pro Stück gepierct, wenn du interessiert bist«, sagte Frances mit frechem Blick. »Drei für einen Zehner.«
»Drei?«, echote Lexi, während unser Gelächter von den gekachelten Wänden widerhallte.
29
In seinen ersten langen Sommerferien nahm Rad einen Job in einer Bäckerei an, wo er glühend heiße Bleche mit Brotlaiben in Öfen hinein- und wieder heraushob, um neun Uhr morgens kam er dann erschöpft nach Hause, mit Mehl in den Haaren und Augenbrauen und Schwielen an den Händen. Er brauchte das Geld nicht - er hatte sogar schon so viel von seinem Stipendium gespart, dass er sich einen Gebrauchtwagen hatte kaufen können - aber er hatte irgendeine seltsame Vorstellung, vielleicht von seinem Vater geerbt, von der Würde körperlicher Arbeit. Sein Talent, von fast nichts zu leben, gab Familie und Freunden Anlass zur Sorge.
»Ich mache mir Gedanken um Rad«, hörte ich Lexi am Telefon zu Clarissa sagen. »Er scheint sein Stipendium zu sparen. Was tut er dort bloß?« Das war ungewöhnlich, weil Lexi sich prinzipiell nie Sorgen machte.
Nicky, der es fertig brachte, schon fast vor Beginn des Trimesters Schulden zu haben, und dem Geburtsh. und Anw. regelmäßig aus der Patsche helfen mussten, war empört. »Wegen Leuten wie dir haben Studenten einen schlechten Ruf. Die Regierung wird die Stipendien nie erhöhen, wenn sich herausstellt, dass jemand wirklich damit auskommt.«
»Ich brauche aber nicht mehr«, protestierte Rad. Er trug eine zerrissene Jeans, die er mit schwarzem Isolierband zusammenzuflicken versucht hatte, und Frances‘ altes Sporthemd, das über der Brust mit »Greenhurst Mädchenschule« bestickt war und auf einem Arm ihre Korbball-, Tennis- und Schwimmabzeichen als Aufnäher hatte.
Nur Mr. Radley schien diesen Stand der Dinge gutzuheißen. »Es ist sehr ermutigend, dass er eine verantwortungsvolle Einstellung zum Geld hat. Ah, Rad, du hast nicht zufällig was bei dir, oder?«
»Ich muss der einzige Student sein, der übers Wochenende nach Hause kommt und von seinem Vater angepumpt wird«, murrte Rad und griff nach seiner Brieftasche.
Zu Rads Verteidigung muss gesagt werden, dass er immerhin nicht genug Geld gespart hatte, um sich ein gutes Auto zu kaufen. Es war ein altersschwacher Citroën 2CV, zuverlässig nur in der Beziehung, dass man sich auf seine Unzuverlässigkeit
Weitere Kostenlose Bücher