Seekers. Sternengeister: Band 6 (German Edition)
steilen Hang hinabzusteigen begann. Er bewegte sich seitwärts durch den tiefen, weichen Schnee, um nicht ins Rutschen zu geraten.
Kallik und Ujurak versuchten, ihm in seinen Tatzenspuren zu folgen, doch das war gar nicht so leicht. Der lockere Schnee schien sich ständig zu verändern.
»Lusa! Lusa!«, rief Kallik, während sie sich taumelnd durch das weiße Meer wälzte. Hörte sie da nicht eine Antwort durch den heulenden Wind hindurch?
Sie versuchte, den dichten Schneevorhang mit den Augen zu durchdringen, und erblickte, nicht weit voraus, einen schwarzen Felsblock, der sich beim Näherkommen als Lusa entpuppte.
»Den Seelen sei Dank!«, rief Kallik aus. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Mir geht’s gut«, antwortete Lusa, wenn sie auch etwas mitgenommen wirkte. »Meint ihr, wir könnten hier unten vielleicht Unterschlupf suchen, bis der Wind nachlässt?«
»Wir könnten uns eine behelfsmäßige Höhle bauen«, überlegte Kallik. »Kissimi könnte ein bisschen Ruhe ganz gut –«
Ein tiefes Donnergrollen ließ sie verstummen.
»Donner?« Ujuraks Stimme klang verdutzt. »Bei einem Schneesturm?«
Kallik erstarrte. Sie fühlte, dass da irgendetwas nicht stimmte. Das rätselhafte Geräusch wurde mit jedem Atemzug lauter. Der Schnee erzitterte unter ihnen und die obere Schicht begann sich jetzt sogar zu bewegen.
»Da kommt etwas durch die Schlucht!«, rief sie voller Angst.
»Lauft weg!«, bellte Toklo.
Seite an Seite mühten sich die Bären, wieder nach oben zu gelangen. Doch der frisch gefallene Schnee war weich und pulverig. Unversehens versank Kallik darin bis zum Bauch und fand nirgendwo richtig Halt. Mühsam schleppte sie sich ein paar Schritte voran, um aber gleich darauf wieder abzurutschen.
Das Donnergeräusch wurde immer lauter, und plötzlich kam eine Karibuherde aus dem Schneesturm geschossen. Irgendetwas hatte die Tiere erschreckt. In wilder Flucht galoppierten sie dahin, eine dunkle Wand aus Geweihen und trampelnden Hufen, die genau auf Kallik zukam.
Die Eisbärin starrte auf die panischen Tiere, wie gelähmt vor Entsetzen. Kissimi! Was soll ich bloß tun?
»Kallik!« Toklos Stimme erklang über ihr. »Kallik, komm hier rauf!«
Kallik blickte sich um und sah, dass der Braunbär auf einem Felsblock hockte, eine gute Bärenlänge über ihr.
»Komm rauf!«, wiederholte er.
Verzweifelt mühte sich Kallik, nach oben zu gelangen. Sie hatte Kissimi von ihrer Schulter genommen und hielt ihn mit ausgestreckten Tatzen in die Luft. Toklo beugte sich herunter, packte das Junge mit dem Maul und zog es hoch. Kallik versuchte, nach oben zu gelangen, doch sie rutschte ab. Der spitze Huf eines Karibus traf sie an der Schulter, als sie sich gerade wieder aufrappeln wollte. Sie stürzte erneut, versuchte, zur Seite wegzukommen, wurde aber wiederum von fliegenden Hufen am Rücken getroffen. Die Karibus trampelten über sie hinweg, während sie ihnen verzweifelt auszuweichen versuchte. Dann schoss ein explosionsartiger Schmerz durch ihren Kopf. Die ganze Schlucht, alles drehte sich um sie, ein um sich greifender weißer Wirbel. Sie gab jeden Widerstand auf und blieb einfach liegen. Das Weiß wurde, während ihr die Sinne schwanden, zu Grau, dann verwandelte es sich in einen schwarzen Himmel voller Sterne. Der Tumult der flüchtenden Karibus beruhigte sich und schließlich herrschte Stille.
Als Kallik die Augen öffnete, erblickte sie eine Welt in ungebrochenem Weiß. Es gab keinen Wind, keinen Schneefall, keine Geräusche.
Bin ich tot?, fragte sie sich. Nisa, wo bist du?
Ein Gesicht tauchte über ihr auf, es war jedoch schwarz, nicht weiß. Blinzelnd erkannte sie Lusa. Toklo und Ujurak standen direkt hinter ihr, Kissimi klammerte sich an Ujuraks Fell fest.
»Arcturus sei Dank, dir ist nichts passiert!«, japste Lusa.
Kissimi stieß ein lautes Quietschen aus. Er entwand sich Ujuraks Tatzen und warf sich Kallik an die Brust.
»Vorsichtig, mein Kleiner«, sagte sie mit schwacher Stimme, während sie ihn sanft liebkoste.
Kalliks Herz schlug schneller, als ihr klar wurde, dass sie für Kissimi das Gleiche getan hatte wie ihre Mutter für sie. Nisa war für sie gestorben, als sie sie vor den Orcas in Sicherheit gebracht hatte, und genau so wäre auch Kallik für Kissimi gestorben. Die Erkenntnis, in die Spuren ihrer Mutter getreten zu sein, weckte neue Kräfte, eine neue Entschlossenheit in ihr.
Langsam erhob sich die Eisbärin, prüfte nacheinander jedes Bein, um sich davon zu überzeugen, dass nichts
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