Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
sind zwecklos. Meine Notlüge von vorhin wieder zurechtzurücken, würde zu viel Aufwand erfordern und Rudolfs Vertrauen in mich womöglich völlig untergraben. Also bleibt es dabei, dass
Chez Maurice
leider kakerlakenverseucht ist und Rudolf schwer leidet. Mein Versuch, ihn in die Kneipe schräg gegenüber zu bugsieren, scheitert, Rudolf ächzt: »In den
Goldenen Bierbrunnen
? Niemals! Eher sterbe ich hier auf dem Bürgersteig.«
Uns bleibt also nichts anderes übrig, als es in Wolfgangs Praxis zu versuchen, die glücklicherweise nur wenige Straßen entfernt ist und garantiert über eine Toilette verfügt. Rudolfs Stimmung hebt sich bereits wieder etwas – und meine sinkt. Denn mein Bruder hat eine Gemeinschaftspraxis mit Jens Höltermann. Was an sich noch kein Problem ist, wenn man einmal davon absieht, dass Jens damals unsterblich in mich verliebt war, ein halbes Jahr lang fast jedes Wochenende von Tübingen nach Berlin trampte – hoffnungsvoll hin, frustriert zurück, weil sich bei mir einfach keinerlei Gefühle einstellen wollten außer einer entsetzlichen Langeweile –, und so war er schließlich kurz davor, dem Leben zu entsagen und ins Kloster zu gehen, behauptete er wenigstens.
Was vielleicht besser für uns alle gewesen wäre, denke ich, als ich Rudolf die Marmortreppe zu Wolfgangs Praxis hochziehe. Ich glaube nämlich nicht, dass Rudolf in seinem jetzigen Zustand es mit Jens aufnehmen kann, dem dreimaligen
Mister Zahnmedizin
, selbst wenn er inzwischen auch um einiges älter geworden sein dürfte.
Kopf hoch! Wird schon gut gehen!, mache ich mir Mut und stoße die breite Glastür auf, die garantiert jeden Tag geputzt wird, und zwar gründlich. Frau Blumer fällt mir dabei ein, aber dann höre ich schon Jens’ tiefe Stimme und werde binnen einer Zehntelsekunde genauso blass wie Rudolf. Er stürzt zur Toilette, die sich praktischerweise neben der Eingangstür befindet, und überlässt mich meinem Schicksal. Und das heißt Jens, der anscheinend gerade ein Telefonat beendet hat und nun fröhlich pfeifend den Gang entlangkommt.
»Wir haben heute Nachmittag keine Sprechstunde«, sagt er, als er mich entdeckt. »Oder sollte ich womöglich schon wieder vergessen haben abzuschließen?«
Ich starre ihn an. Der Mensch vor mir hat Jens’ Stimme, eindeutig, aber sonst keinerlei Ähnlichkeit mit dem gutaussehenden Studenten von damals. Vor mir ein Koloss mit Bauchansatz, Dreifachkinn und schütterem Haar, der sich schnaufend an mir vorbeischiebt und den Schlüssel an der Eingangstür umdreht. In mir steigt Panik hoch.
»Keine Sorge, ich lass Sie schon wieder raus«, sagt er grinsend. »Ich will nur vermeiden, dass noch mehr Patienten die Chance ergreifen. Welches Problem führt Sie denn zu mir, gnädige Frau?«
Die Toilettenspülung rauscht. Jens dreht sich irritiert um. »Das ist nur mein Mann«, stottere ich. »Also es ist so, dass ...« Um Himmels willen, was sage ich nur? Immerhin, bis jetzt scheint Jens mich nicht erkannt zu haben – was in diesem Fall vom Prinzip her schon mal günstig ist.
»Man spaziert doch hier nicht einfach herein, nur weil die Tür offensteht, und benutzt dann die Toilette. Schließlich sind wir sind keine öffentliche ...«
»Aber ich bitte Sie!« Rudolf, der inzwischen wieder etwas Ähnlichkeit mit dem Mann hat, in den ich mich mal Hals über Kopf verliebt habe, schließt behutsam die Toilettentür hinter sich und lächelt freundlich in die Runde. Optimaler Zeitpunkt, sich jetzt ganz schnell von Jens zu verabschieden, finde ich. Niemals wird er erfahren, dass ich die Frau bin, für die er sich vor Jahren an unendlich vielen Autobahnauffahrten und Raststätten die Beine in den Bauch gestanden hat.
»Danke für Ihre Freundlichkeit«, sage ich lächelnd und mache Rudolf Zeichen. »Wir müssen dann auch weiter.«
Er starrt mich an. »Was ist denn jetzt schon wieder los? Ich denke, wir sind hier, weil du Wolfgang suchst.«
»Ach, sind Sie Bekannte von Wolfgang Schütterle?«, will Jens wissen.
Ich muss sofort handeln. Was sich allerdings als schwierig erweist, denn in Rudolf ist ganz plötzlich der Galerist erwacht. Wie festgenagelt steht er da, den Oberkörper angespannt, eine Hand am Kinn, sozusagen in Rudolf ’scher Denkerpose, und taxiert das Gemälde (rot und lila und sehr abstrakt), das hinter dem Empfangstresen hängt.
»Sie kennen meinen Kollegen?« Jens macht interessiert einen Schritt auf mich zu.
Rudolf, geistig weggetreten, hat inzwischen seine Brille aufgesetzt
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