Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
denen wir womöglich auf Uli stoßen könnten, einen gewaltigen Bogen machen muss. Ich versuche, mich an meinen letzten Besuch bei Wolfgang und Renate zu erinnern, aber natürlich hat sich in den letzten Jahren einiges verändert, Bäume werden höher, Häuser werden abgerissen, neue gebaut … Schließlich bin ich schon fast so weit, bei Renate anzurufen und sie um ihre Adresse zu bitten, da habe ich endlich mein Erfolgserlebnis. »Na bitte«, sage ich, »da sind wir ja!«
Ich steure auf einen mehrstöckigen Klotz zu. Rudolf mustert enttäuscht das – zugegeben – eher unspektakuläre Gebäude (vermutlich hat er bei einem Zahnarzt zumindest eine Jugendstilvilla vermutet), und ich sage: »Warte ab, bis du erst die Dachterrasse gesehen hast. Da oben hast du einen wahnsinnigen Blick über die ganze Stadt.«
Ich klingle ein Mal, ich klingle zwei Mal, beim dritten Mal lasse ich den Finger einfach auf dem Klingelknopf … Aber nichts rührt sich. Nun gut, ich erwarte natürlich nicht, dass Renate an der Tür wartet, um sofort zu öffnen, aber diese Nichtreaktion finde ich eher grenzwertig. Zumal meine Schwägerin uns gestern doch ausdrücklich zum Essen eingeladen hat.
Rudolf erweist sich wieder einmal als wenig hilfreich. Einerseits scheint er erleichtert zu sein, dass niemand da ist, andererseits behauptet er, dieses Verhalten sei kränkend. »Immerhin bist du Verwandtschaft«, stellt er ganz richtig fest.
Ich greife zum Handy. Glücklicherweise bin ich, was das Telefon angeht, ein hundertprozentiger Ordnungsfetischist. Mühelos könnte ich jetzt zum Beispiel die Bäckerei in Köpenick anrufen, für die ich drei Monate lang frühmorgens Brötchen verkauft habe (nebenbei bemerkt, zu einem Hungerlohn, der mir bis heute Tränen in die Augen treibt, wenn ich auch nur daran denke). Ich habe alle Nummern gespeichert – einhundertsechundachtzig, um genau zu sein –, nach einem System, das sich Fremden nur schwer erschließt, wobei unter
Jobs
sehr viele, unter
Lover
dagegen erstaunlich wenige zu finden sind, zumindest für eine Frau, die ihre wilden Jahre in Berlin verbracht hat. Mit einem Antippen habe ich
Familie
aufgerufen (ebenfalls recht überschaubar) und lasse es bei Wolfgang und Renate klingeln.
»Vielleicht läuft gerade die Küchenmaschine«, flüstere ich Rudolf zu, während es an meinem Ohr monoton vor sich hin tutet. »Könnte ja sein, dass Renate die Sahne für den Apfelkuchen schlägt.«
»Dann hat sie inzwischen aber Butter«, stellt Rudolf mit einem süffisanten Lächeln fest.
»Es könnte aber auch der Staubsauger sein«, mutmaße ich. »Du, ich bin sicher, Renate putzt sehr gründlich, bevor Besuch kommt. Bei ihr kann man garantiert vom Boden essen.« Aber nicht einmal diese Aussicht muntert Rudolf auf. Er scheint inzwischen eher seinen negativen Tag zu haben. Vielleicht hat er aber auch nur Hunger!
»Vergiss es. Da ist niemand«, brummt er und lehnt sich gegen die Hauswand. Ich werfe ihm einen besorgten Blick zu. In Berlin feiern wir die Wochenenden häufig durch, es ist manchmal fünf, halb sechs, bis wir nach Hause kommen – aber sogar nach solch langen Nächten hat Rudolf immer noch um einiges besser ausgesehen als jetzt. Liegt womöglich an der sauberen Luft hier, die garantiert gewaltig mehr Sauerstoff enthält als die in Berlin. Womöglich hat der Mann an meiner Seite im Moment ja gerade so eine Art umgekehrten Höhenrausch.
Ich versuche mein Glück bei Wolfgang auf dem Handy. Dieses Mal meldet sich immerhin die Mailbox. »Könnt ihr endlich aufmachen, oder sitzt ihr auf den Ohren? Wir stehen seit einer halben Ewigkeit vor eurer Haustür und …« Weiter komme ich nicht, denn die Mailbox hat sich abgeschaltet. Einen Moment lang hoffe ich, dass Wolfgang jetzt vielleicht endlich abnimmt, aber dann ist die Leitung auf einmal tot. Frustriert stecke ich mein Handy wieder ein.
»Mir ist schlecht«, verkündet Rudolf mit Leidensmiene. »Eine Toilette wäre jetzt nicht verkehrt.«
»Ach was, dir ist gar nicht schlecht, das bildest du dir nur ein. Wir machen Urlaub, haben herrliches Wetter … Erinnerst du dich, wie es gestern geregnet hat? Kein Mensch hätte gedacht, dass heute wieder die Sonne scheint.«
»Dein Gute-Laune-Programm kannst du dir sparen«, stöhnt er auf. »Ich habe schließlich das meiste von dem Rotwein getrunken. Und das in einem Lokal, in dem es von Kakerlaken nur so wimmelt. Also habe ich ja wohl jedes Recht der Welt darauf, dass mir speiübel ist, oder?«
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