Seelen der Nacht
er an Eleanor St. Leger dachte – oder beides.
»Das Foto ist eine Drohung – und keine leere. Hamish war der Meinung, dass die Hexen sich zurückhalten würden, nachdem sie es mit einer Bishop zu tun haben, aber ich fürchte, das Gegenteil trifft zu. Ganz egal, wie groß ihre angeborenen Gaben sind, Diana kann sich unmöglich selbst schützen, und sie legt zu großen Wert auf ihre verfluchte Unabhängigkeit, als dass sie mich um Hilfe bitten würde. Du musst für mich ein paar Stunden auf sie aufpassen.« Matthew löste widerwillig den Blick von dem Abbild Rebecca Bishops und Stephen Proctors. »Ich mache mich auf die Suche nach Gillian Chamberlain.«
»Du weißt nicht mit Sicherheit, ob Gillian dieses Bild abgegeben hat«, merkte Marcus an. »Dem Papier haften zwei verschiedene Gerüche an.«
»Der andere stammt von Peter Knox.«
»Aber Peter Knox ist Mitglied der Kongregation!« Marcus wusste, dass während der Kreuzzüge ein neunköpfiger Rat von Dämonen, Hexen und Vampiren gebildet worden war – mit drei Abgesandten aus jeder Spezies. Die Kongregation sollte dafür sorgen, dass niemand die Aufmerksamkeit der Menschen erregte, damit alle Kreaturen ungestört leben konnten. »Wenn du auf ihn losgehst, wird man das als Angriff auf die Autorität der Kongregation ansehen. Damit wird die ganze Familie hineingezogen. Du willst doch nicht ernsthaft uns alle in Gefahr bringen, nur um eine Hexe zu rächen?«
»Du stellst nicht meine Loyalität in Frage, oder?«, schnurrte Matthew.
»Nein. Aber dein Urteilsvermögen«, erwiderte Marcus hitzig und baute sich furchtlos vor seinem Vater auf. »Wegen dieser lächerlichen Romanze hat die Kongregation bereits einen Grund, etwas gegen dich zu unternehmen. Gib ihnen nicht noch einen.«
Bei Marcus’ erstem Besuch in Frankreich hatte ihm seine Vampir-Großmutter erklärt, dass er fortan durch einen Pakt gebunden sei, der jede Gefühlsverbindung zwischen verschiedenen Arten von Kreaturen sowie jede Einmischung in die menschliche Religion oder Politik
untersagte. Alle anderen Interaktionen mit Menschen – Herzensangelegenheiten eingeschlossen – sollten möglichst vermieden werden, wurden aber geduldet, solange sie keine Probleme machten. Marcus zog es vor, seine Zeit mit Vampiren zu verbringen, und hatte das immer getan, darum hatte er diesem Pakt wenig Beachtung geschenkt – bis jetzt.
»Das interessiert doch niemanden mehr«, versuchte Matthew sich zu verteidigen und richtete die grauen Augen auf die Schlafzimmertür.
»Mein Gott, sie hat keine Ahnung von dem Pakt«, meinte Marcus verächtlich, »und du hast offensichtlich nicht vor, ihr davon zu erzählen. Du weißt verflucht gut, dass du das nicht ewig vor ihr geheim halten kannst.«
»Die Kongregation wird bestimmt kein Verbot erzwingen wollen, das vor fast tausend Jahren in einer völlig anderen Welt erlassen wurde.« Jetzt richtete sich Matthews Blick auf einen alten Druck der Göttin Diana, die mit ihrem Bogen auf einen durch den Wald fliehenden Jäger zielte. Er musste an eine Passage aus einem Buch denken, das ein Freund vor langer Zeit geschrieben hatte – Denn sie sind nicht mehr Jäger, sondern Gejagte – und erschauerte.
»Denk nach, bevor du etwas unternimmst, Matthew.«
»Ich habe meine Entscheidung gefällt.« Er wich dem Blick seines Sohnes aus. »Siehst du nach ihr, während ich weg bin, und passt auf, dass ihr nichts passiert?«
Marcus nickte, denn dem rauen Flehen in der Stimme seines Vaters konnte er sich nicht entziehen.
Sobald sein Vater die Tür hinter sich zugezogen hatte, ging Marcus zu Diana. Er hob erst ihr eines, dann das andere Lid an und griff dann nach ihrem Handgelenk. Schnuppernd atmete er die Angst und den Schock ein, die von ihr ausstrahlten. Außerdem roch er die Droge, die immer noch durch ihre Adern zirkulierte. Gut, dachte er. Wenigstens war sein Vater so geistesgegenwärtig gewesen, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben.
Marcus untersuchte Diana weiter, betrachtete eingehend ihre Haut und lauschte ihren Atemzügen. Als er damit fertig war, blieb er still
am Bett der Hexe stehen und sah ihr beim Träumen zu. Auf ihrer Stirn standen Falten, als würde sie mit jemandem streiten.
Nach seiner Untersuchung waren Marcus zwei Dinge klar. Erstens, dass Diana sich erholen würde. Sie stand unter einem schweren Schock und brauchte Ruhe, aber ihr war kein dauerhafter Schaden zugefügt worden. Zweitens haftete ihr überall der Duft seines Vaters an. Er
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