Seelen der Nacht
fürchtete, das der Vampir ihm geschildert hatte. Matthew trug den schlaffen und fieberglühenden Kranken aus dem Lazarett in den Wald, wo die Oneida auf sie warteten, um sie in die Berge zu führen. In einer abgelegenen Talmulde, wo niemand Marcus’ Schreie hören konnte, sog Matthew sein Blut aus. Bis zu diesem Tag erinnerte sich Marcus an den unersättlichen Durst, der sofort darauf eingesetzt hatte. Er hatte ihn zum Wahnsinn getrieben, ihn verzweifelt nach irgendetwas Kaltem, Flüssigem suchen lassen.
Schließlich hatte Matthew mit den Zähnen sein eigenes Handgelenk
aufgerissen und Marcus trinken lassen. Das kraftvolle Vampirblut hatte Marcus schlagartig mit neuem Leben erfüllt.
Die Oneida warteten still und schweigend am Höhleneingang und verhinderten, dass er Unheil über die Farmen in der Nähe brachte, als sein Blutdurst erwachte. Sobald Matthew in ihr Dorf getreten war, hatten sie ihn als das erkannt, was er war. Er war wie Dagwanoenyent, die Hexe, die im Wirbelsturm lebte und nicht sterben konnte. Warum die Götter beschlossen hatten, dem französischen Krieger solche Kräfte zu verleihen, war den Oneida ein Rätsel, aber die Götter waren für ihre verwirrenden Ratschlüsse berüchtigt. Die Oneida konnten nur sicherstellen, dass ihre Kinder die Legende von Dagwanoenyent kannten, und ihnen einprägen, dass man so ein Wesen nur töten konnte, wenn man es verbrannte, alle Knochen zu Pulver zermahlte und dieses in die vier Winde verstreute.
Von seinem ungestillten Durst gepeinigt, verhielt sich Marcus wie das Kind, das er war. Er heulte frustriert und schlotterte vor Verlangen. Als Matthew einen Hirsch erlegte, um dem jungen Mann, der als sein Sohn wiedergeboren worden war, etwas zu trinken zu geben, hatte Marcus das Tier auf einen Satz leergesogen. Das hatte zwar Marcus’ Hunger gestillt, aber nicht das Sirren in seinen Adern gelindert, das Matthews uraltes Blut ausgelöst hatte.
Nachdem Matthew eine Woche lang frisches Wild in ihren Unterschlupf geschleppt hatte, beschloss er, dass Marcus bereit war, selbst auf die Jagd zu gehen. Vater und Sohn verfolgten Hirsche und Bären durch tiefe Wälder und über mondbeschienene Bergkuppen. Matthew brachte Marcus bei, die Witterung aufzunehmen, im Schatten nach noch so winzigen Bewegungen Ausschau zu halten und jede Luftveränderung zu erspüren, die frische Gerüche herantrug. Und er brachte dem Heiler das Töten bei.
In jenen frühen Jahren verzehrte sich Marcus nach reichhaltigerem Blut. Er brauchte es, um seinen tiefen Durst zu stillen und seinen ständig hungrigen Körper zu ernähren. Aber Matthew wartete ab, bis Marcus einen Hirsch verfolgen, zu Fall bringen und aussaugen konnte, ohne dabei ein Gemetzel zu veranstalten, bevor er ihn Menschen jagen
ließ. Frauen waren tabu. »Zu verwirrend für frisch wiedergeborene Vampire«, hatte Matthew erklärt, denn die Grenze zwischen Sex und Tod, Werbung und Jagd war hauchdünn.
Erst ernährten sich Vater und Sohn von kranken englischen Soldaten. Manche flehten Marcus an, sie am Leben zu lassen, und so brachte Matthew seinem Sohn bei, wie man sich von Warmblütern ernährt, ohne sie dabei zu töten. Als Nächstes jagten sie Kriminelle, die um Gnade winselten und sie nicht verdient hatten. Jedes Mal ließ sich Matthew von Marcus erklären, warum er ein ganz bestimmtes Opfer ausgewählt hatte. Marcus’ Moral entwickelte sich stockend und unter Rückschlägen, doch ganz langsam lernte der Vampir, mit dem umzugehen, was er tun musste, um zu überleben.
Matthew war bekannt für sein hochentwickeltes Moralverständnis. Seine wenigen Fehltritte waren immer auf eine im Zorn gefällte Entscheidung zurückführen. Man hatte Marcus erzählt, dass sein Vater inzwischen weniger zu gefährlichen Gefühlsausbrüchen neigte als früher. Vielleicht stimmte das, aber heute Abend in Oxford sah er in Matthews Gesicht die gleiche mörderische Wut wie damals in Brandywine – und diesmal gab es kein Schlachtfeld, auf dem er seinen Zorn austoben konnte.
»Du hast einen Fehler gemacht.« Mit wildem Blick studierte Matthew den DNA-Test der Hexe.
Marcus schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr Blut zweimal analysiert. Miriam hat die Befunde mit der DNA von den Wattestäbchen abgeglichen. Ich muss zugeben, die Ergebnisse sind überraschend.«
Matthew holte bebend Luft. »Sie sind absurd.«
»Diana hat praktisch jeden genetischen Marker, den wir je bei einer Hexe isoliert haben.« Marcus’ Mund gerann zu einer dünnen Linie,
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