Seelen der Nacht
auf und starrte wieder auf den Druck mit der Göttin der Jagd, die ihre Beute ins Visier nimmt. Wieder kam ihm ein Vers aus jenem alten Gedicht in den Sinn. »Ich sah sie kommen aus dem Wald«, flüsterte er. »Jägerin meiner selbst, geliebte Diana.«
Im Schlafzimmer, zu weit entfernt, als dass ein Warmblüter es hätte hören können, wälzte sich Diana im Bett und schrie auf. Matthew flog an ihr Bett und nahm sie in den Arm. Wieder meldete sich sein Beschützerinstinkt und diesmal entschlossener denn je.
»Ich bin bei dir«, murmelte er in die Regenbogensträhnen ihres Haares. Dann sah er in Dianas schlafendes Gesicht, betrachtete den leichten Schmollmund und die strengen Falten in der Stirn. Stundenlang hatte er dieses Gesicht studiert und kannte es in- und auswendig, trotzdem faszinierte ihn immer noch die Widersprüchlichkeit, die es ausstrahlte. »Hast du mich verhext?«, fragte er sich laut.
Seit diesem Abend wusste Matthew, dass er sie mehr brauchte als alles andere in der Welt. Weder seine Familie noch sein Blutdurst zählten,
solange er nur wusste, dass sie in Sicherheit und in seiner Nähe war. Wenn es sich so anfühlte, verhext zu sein, dann war er rettungslos verloren.
Sein Griff wurde energischer, bis er Diana im Schlaf so fest an seine Brust drückte, wie er es sich nie erlaubt hätte, wenn sie wach gewesen wäre. Seufzend schmiegte sie sich an ihn.
Wäre er kein Vampir gewesen, wäre ihm wahrscheinlich entgangen, was sie vor sich hin murmelte, während sie ihre Finger um die Ampulle und in den Stoff seines Pullovers krallte, sodass ihre Faust fest auf seinem Herzen lag.
»Du bist nicht verloren. Ich habe dich gefunden.«
Matthew fragte sich einen kurzen Moment, ob er sich die Worte nur eingebildet hatte, doch das hatte er nicht.
Sie konnte seine Gedanken hören.
Nicht ständig, nicht wenn sie wach war – noch nicht. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis Diana alles wusste, was es über ihn zu wissen gab. Sie würde seine Geheimisse kennen und all die düsteren und schrecklichen Dinge wissen, denen er sich selbst nicht stellen wollte.
Sie antwortete mit einem leise gemurmelten: »Ich bin tapfer genug für uns beide.«
Matthew senkte den Kopf auf ihren. »Das wirst du auch sein müssen.«
17
M ein Mund schmeckte intensiv nach Nelken, und ich war wie eine Mumie in meine Bettdecke gepackt. Als ich mich gegen meine Fesseln zu wehren versuchte, gaben die alten Sprungfedern des Bettes leicht nach.
»Pst.« Matthews Lippen waren an meinem Ohr, und sein Körper schirmte meinen Rücken ab. Wir lagen aneinandergeschmiegt wie zwei Löffel in der Schublade.
»Wie spät ist es?« Ich war heiser.
Matthew löste sich ein wenig von mir und sah auf die Uhr. »Nach eins.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Seit sechs gestern Abend.«
Gestern Abend.
Meine Gedanken zersplitterten in einzelne Worte und Bilder: das alchemistische Manuskript, Peter Knox’ Drohung, meine blau sprühenden Finger, das Foto meiner Eltern, die für alle Zeit ins Leere fassende Hand meiner Mutter.
»Du hast mir Medikamente gegeben.« Ich kämpfte gegen die Decke an und versuchte meine Hände freizubekommen. »Ich nehme keine Medikamente, Matthew.«
»Wenn du das nächste Mal unter Schock stehst, werde ich dir das sinnlose Leiden nicht ersparen«, versprach er. Er zog einmal kurz an der Decke und erreichte damit mehr als ich mit meinen verzweifelten Bemühungen.
Matthews scharfer Tonfall schüttelte die Erinnerungsfetzen durch und ließ neue Bilder an die Oberfläche steigen. Gillian Chamberlains verzerrtes Gesicht, das mich warnte, nichts geheimzuhalten,
und das Blatt, das mir befahl, mich zu erinnern. Ein paar Sekunden war ich wieder sieben und versuchte zu begreifen, wie meine klugen und lebensfrohen Eltern einfach so aus meinem Leben verschwinden konnten.
Während ich in meinem Zimmer die Hand nach Matthew ausstreckte, versuchte in meinem Geist die Hand meiner Mutter über einen Kreidekreis hinweg nach meinem Vater zu fassen. Die nie überwundene kindliche Verzweiflung über ihren Tod kollidierte mit dem neuen, erwachsenen Verständnis für den verzweifelten Versuch meiner Mutter, meinen Vater ein letztes Mal zu berühren. Abrupt befreite ich mich aus Matthews Umarmung und rollte mich mit angezogenen Knien zusammen.
Matthew wollte mir helfen – das sah ich durchaus –, aber er war sich meiner nicht sicher, und ich sah meine eigenen widersprüchlichen Gefühle wie einen Schatten über sein Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher