Seelen der Nacht
Die heutigen Warmblüter genießen eine so schrecklich schlechte Erziehung.«
Eine stämmige alte Frau mit schneeweißer Haut und massigem, viel zu schwarzem Haar, das in kleinen Zöpfen um ihren Kopf geschlungen war, trat mit ausgebreiteten Armen in die Eingangshalle. »Matthew!«, rief sie aus. »Cossi anatz?«
»Va plan, mercés. E tu?« Matthew schloss sie in die Arme und küsste sie auf beide Wangen.
»Aital, aital«, erwiderte sie und umfasste grimassierend ihren Ellbogen.
Matthew murmelte etwas Mitfühlendes, und Ysabeau flehte still die Decke an, sie von diesem emotionalen Spektakel zu erlösen.
»Marthe, das ist meine Freundin Diana«, sagte er und zog mich nach vorn.
Marthe war ebenfalls ein Vampir, und einer der ältesten, die ich je
gesehen hatte. Offenbar war sie schon über sechzig gewesen, als sie wiedergeboren wurde, und obwohl ihr Haar so dunkel war, war ihr das Alter deutlich anzusehen. Falten zogen sich kreuz und quer über ihr Gesicht, und ihre Handgelenke waren so knotig, dass man den Eindruck hatte, nicht einmal Vampirblut könne sie geradeziehen.
»Willkommen, Diana«, sagte sie mit einer Stimme wie Sand und Sirup und sah mir dabei tief in die Augen. Sie nickte Matthew zu und fasste nach meiner Hand. Ihre Nasenflügel bebten. »Elle est une puissante sorcière«, meinte sie dann anerkennend zu Matthew.
»Sie sagt, du seist eine mächtige Hexe«, übersetzte Matthew. Dank seiner Nähe war es mir nicht ganz so unangenehm, von einem Vampir beschnuppert zu werden.
Nachdem ich keine Ahnung hatte, was man auf Französisch am besten auf einen derartigen Kommentar entgegnete, lächelte ich Marthe nur zaghaft an und hoffte, dass das genügte.
»Du bist erschöpft«, sagte Matthew und ließ seinen Blick über mein Gesicht zucken. Dann begann er in atemberaubender Geschwindigkeit die beiden Vampirinnen in der mir unbekannten Sprache zu befragen. Seine Fragen führten zu ausgiebigem Fingerzeigen, Augenverdrehen, zu mitleidigen Gesten und Seufzern. Ysabeau sagte etwas über eine Louisa, und Matthew sah seine Mutter mit neu entfachtem Zorn an. Als er ihr antwortete, klang seine Stimme flach und ruppig.
Ysabeau zuckte mit den Achseln. »Natürlich, Matthew«, murmelte sie sichtlich scheinheilig.
»Wir zeigen dir jetzt dein Zimmer.« Sobald Matthew mich ansprach, wurde seine Stimme wieder warm.
»Ich bringe euch Wein und Essen«, versprach Marthe in stockendem Englisch.
»Danke«, sagte ich. »Und danke, Ysabeau, dass Sie mich aufnehmen.« Sie schniefte und bleckte die Zähne. Ich hoffte, dass das ein Lächeln sein sollte, fürchtete aber, dass es keines war.
»Und Wasser, Marthe«, ergänzte Matthew. »Ach ja, und heute Vormittag wird noch Essen gebracht.«
»Etwas ist schon geliefert worden«, bemerkte seine Mutter schnippisch.
»Blätter. Säcke mit Gemüse und Eiern. Es war keine gute Idee von dir, es extra anliefern zu lassen.«
»Diana muss essen, Maman. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr nicht allzu viel im Haus habt.«
Matthews Geduldsfaden war nach den Ereignissen vom Vorabend und diesem lauwarmen Empfang spürbar ausgefranst.
»Ich brauche Blut, trotzdem erwarte ich nicht von Victoire und Alain, dass sie es mitten in der Nacht aus Paris holen.« Ysabeau sah ungemein selbstzufrieden aus, während mir die Knie weich wurden.
Matthew atmete scharf aus und schob die Hand unter meinen Ellbogen, um mich zu stützen. »Marthe«, bat er, Ysabeau geflissentlich ignorierend, »kannst du Eier und Toast und etwas Tee für Diana nach oben bringen?«
Marthe sah erst Ysabeau und dann Matthew an, als wäre sie Schiedsrichterin in Wimbledon. Dann lachte sie keckernd. »Òc«, erwiderte sie und nickte fröhlich.
»Wir sehen euch beide zum Abendessen«, erklärte Matthew ruhig. Ich spürte vier eisige Flecken zwischen den Schulterblättern, als uns die Frauen nachsahen. Marthe sagte etwas zu Ysabeau, das sie schnauben ließ und Matthew ein breites Lächeln ins Gesicht zauberte.
»Was hat Marthe gesagt?«, flüsterte ich und dachte zu spät daran, dass in diesem Haus praktisch jeder alles hören würde, ob ich nun flüsterte oder nicht.
»Sie sagte, dass wir gut aussehen zusammen.«
»Ich möchte nicht, dass Ysabeau die ganze Zeit, die wir hier sind, wütend auf mich ist.«
»Beachte sie gar nicht«, meinte er heiter. »Hunde, die bellen, beißen nur selten.«
Wir traten durch eine Tür und in einen langen Raum, in dem es von Stühlen und Tischen aus den verschiedensten Stilen und Epochen nur
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