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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Harkness
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und Karamell erinnerte. Der kurze, düstere Gang, den wir durchschritten, war nicht allzu einladend mit Hellebarden geschmückt, die genau auf den Kopf des Besuchers zielten. Dahinter gelangten wir in einen Raum mit hoher Decke und Wandgemälden, der eindeutig von einem fantasievollen Künstler des neunzehnten Jahrhunderts ausgemalt worden war, um an ein Mittelalter zu erinnern, das es so nie gegeben hatte. Löwen, Lilien, Muscheln und eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss, zierten die weißen Wände. Am anderen Ende stieg eine Wendeltreppe in einen der Türme auf.
    Drinnen traf mich Ysabeaus Blick in seiner ganzen Wucht. Matthews Mutter strahlte jene furchteinflößende Eleganz aus, die den Französinnen anscheinend angeboren ist. Genau wie ihr Sohn  – der irritierenderweise etwas älter aussah als sie  – beschränkte sie sich bei ihrer Kleidung auf monochrome Farbtöne, die sie nicht ganz so gespenstisch bleich aussehen ließen. Ysabeaus bevorzugte Farben lagen zwischen hellem Creme und weichem Braun. Jeder Zentimeter ihrer Garderobe wirkte schlicht und teuer, von den Spitzen der weichen, sandbraunen Lederschuhe aufwärts bis zu den Topasen, die ihre Ohren zierten. Splitter von verblüffend kaltem Smaragd umgaben die dunklen Pupillen,
und die hoch angesetzten schrägen Wangenknochen verliehen ihrem ansonsten makellosen Antlitz mit der blendend weißen Haut etwas Eigenes. Ihr Haar hatte die Farbe und Textur von Honig und lag wie ein goldenes Seidenknäuel in einem schweren, tief angesetzten Knoten in ihrem Nacken.
    »Das war ausgesprochen unüberlegt, Matthew.« Ihr Akzent ließ seinen Namen weicher, altertümlicher klingen. Wie alle Vampire hatte sie eine verführerische, melodische Stimme. In Ysabeaus Fall klang sie tief und rein wie fernes Glockengeläut.
    »Angst, dass man über uns reden könnte, Maman ? Ich dachte, du wärest stolz darauf, eine Radikale zu sein.« Matthew klang gleichzeitig nachsichtig und ungeduldig. Er warf die Schlüssel auf einen nahen Tisch. Sie schlitterten über die blank polierte Fläche und landeten klirrend am Fuß einer chinesischen Porzellanschale.
    »Ich war nie eine Radikale!« Ysabeau klang schockiert. »Veränderungen werden eindeutig überschätzt.«
    Sie drehte sich um und musterte mich von Kopf bis Fuß. Ihr perfekt geformter Mund wurde zum Strich.
    Was sie sah, gefiel ihr gar nicht  – und das war kein Wunder. Ich versuchte mich mit ihren Augen zu sehen  – das sandhelle Haar, das weder besonders dicht noch anschmiegsam aussah, die Sommersprossen von den vielen Stunden im Freien, die Nase, die viel zu weit aus dem restlichen Gesicht vorragte. Meine Augen waren mein größter Pluspunkt, aber mein mangelndes Modegespür konnten sie wohl kaum wettmachen. Neben ihrer eleganten Erscheinung und dem stets makellosen Matthew kam ich mir vor wie eine linkische Landmaus  – und sah wohl auch so aus. Ich zupfte mit der freien Hand am Saum meiner Jacke, erleichtert, dass meine Fingerspitzen ausnahmsweise nicht elektrisch leuchteten, und hoffte gleichzeitig, dass das phantomhafte »Schimmern«, das Matthew erwähnt hatte, ebenfalls verschwunden war.
    »Maman, das ist Diana Bishop. Diana, meine Mutter. Ysabeau de Clermont.« Die Silben rollten von seiner Zunge.
    Ysabeaus Nasenflügel bebten empfindlich. »Ich mag es nicht, wie
Hexen riechen.« Ihr Englisch war makellos, ihr eiskalter Blick lag fest auf mir. »Sie riecht süß und widerlich grün. Wie der Frühling.«
    Matthew reagierte mit einer mir unverständlichen Tirade, die sich anhörte wie eine Kreuzung aus Französisch, Spanisch und Latein. Er wurde nicht laut, aber der Groll in seiner Stimme war nicht zu überhören.
    »Ça suffit«, gab Ysabeau in gut verständlichem Französisch zurück und zog dabei die Hand über ihre Kehle. Ich schluckte schwer und griff automatisch an meinen Jackenkragen.
    »Diana.« Ysabeau sprach den Namen mit französischem i und Betonung auf der ersten statt auf der zweiten Silbe aus. Dann streckte sie mir eine weiße, kalte Hand hin, und ich ergriff ihre Finger. Matthew nahm meine linke Hand in seine, und für einen kurzen Moment bildeten wir eine merkwürdige Kette aus zwei Vampiren und einer Hexe. »Encantada.«
    »Sie freut sich, dich kennenzulernen«, übersetzte Matthew für mich und warf seiner Mutter einen warnenden Blick zu.
    »Ja, ja«, sagte Ysabeau ungeduldig und wandte sich wieder ihrem Sohn zu. »Natürlich spricht sie nur Englisch und modernes Französisch.

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