Seelen der Nacht
Körper ergoss. Ich öffnete den Mund, um Luft zu holen, weil mir das Wasser übers Gesicht lief und mir die Nase verstopfte, und ein nach Meerwasser schmeckender Sturzbach ergoss sich über meine Lippen.
Durch die Nässe hindurch spürte ich Marthes und Ysabeaus Blicke. Marthe sah mich streng an. Ysabeaus Lippen bewegten sich, aber das Dröhnen Tausender Muscheln übertönte ihre Worte.
Ich stand auf, weil ich hoffte, dass das Wasser dann versiegen würde. Ohne Erfolg. Ich versuchte den beiden Frauen zu erklären, dass ich nichts dafürkonnte – aber damit löste ich nur eine weitere Sturzflut aus. Ich streckte die Hand aus, weil ich annahm, dass ich die Flut damit aufhalten konnte. Stattdessen spritzte noch mehr Wasser aus meinen Fingerspitzen. Die Geste erinnerte mich daran, wie meine Mutter die Hand nach meinem Vater ausgestreckt hatte, und die Bäche schwollen weiter an.
Je heftiger das Wasser strömte, desto mehr verlor ich die Beherrschung. Der unerwartete Auftritt von Domenico hatte mir mehr Angst gemacht, als ich bis dahin hatte zugeben wollen. Matthew war weg. Und ich hatte geschworen, ihn gegen Feinde zu verteidigen, die ich nicht
kannte und nicht verstand. Inzwischen war klar, dass sich Matthews Vergangenheit nicht nur aus gemütlichen Kaminfeuern, Wein und Büchern zusammensetzte. Und sie hatte sich auch nicht ausschließlich im Umkreis einer harmonischen Familie abgespielt. Laut Domenico war seine Vergangenheit düster gewesen, voller Feindseligkeiten, Gefahren und Tod.
Die Erschöpfung übermannte mich und zog mich unter Wasser. Die Müdigkeit wurde von einem eigenartigen Hochgefühl begleitet. Ich schwebte zwischen nackter Sterblichkeit und etwas Elementarem, in dem das Versprechen einer enormen, unbegreiflichen Macht enthalten war. Wenn ich mich dem Sog überließ, würde es keine Diana Bishop mehr geben. Stattdessen würde ich zu Wasser – ohne festen Ort, allgegenwärtig, von meinem Körper und allen Schmerzen befreit.
»Bitte verzeih mir, Matthew.« Meine Worte waren nur noch ein Blubbern unter dem unerbittlichen Werk des Wassers.
Ysabeau trat auf mich zu, und durch meinen Kopf hallte ein scharfer Peitschenknall. Mein Warnruf ging in einem Tosen wie von einer brechenden Riesenwelle unter. Unter meinen Füßen erhob sich ein Wind, der das Wasser zu einem Hurrikan hochpeitschte. Ich hob die Arme zum Himmel, und Wasser und Wind bildeten einen hohen Schlauch, der meinen Körper umwirbelte.
Marthe packte Ysabeau am Arm und bewegte hektisch den Mund. Matthews Mutter versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien, und ihr Mund formte das Wort »Nein«, doch Marthe ließ nicht los und bannte sie dabei mit ihrem Blick. Nach ein paar Sekunden sackten Ysabeaus Schultern nach unten. Sie drehte sich zu mir um und begann zu singen. Ihre eindringliche, sehnsüchtige Stimme durchdrang die Wasserwand und rief mich in die Welt zurück.
Der Wind begann sich zu legen. Die von den Böen hochgepeitschte Standarte der de Clermonts flatterte wieder träge im leisen Wind. Die Kaskade, die sich aus meinen Fingerspitzen ergossen hatte, dünnte zu einem Rinnsal aus und versiegte schließlich völlig. Die Wogen, die aus meinen Haaren geflossen waren, schwächten sich zu kleinen Wellen ab und verschwanden dann ebenfalls. Schließlich kam nichts mehr
aus meinem Mund als ein überraschtes Ausschnaufen. Als Letztes versiegten die tennisballgroßen Tränen, die aus meinen Augen gerollt waren und die zuerst verraten hatten, welche Kräfte in mir tobten. Die Reste meiner Flut flossen durch die kleinen Löcher unten in der Brüstung ab. Tief unter uns spritzte das Wasser auf das dicke Kiesbett im Hof.
Als alles vorüber war, fühlte ich mich ausgehöhlt wie ein Kürbis, und mir war bitterkalt. Meine Knie knickten ein und prallten ungebremst auf den Steinboden.
»Gott sei Dank«, murmelte Ysabeau. »Um ein Haar hätten wir sie verloren.«
Ich schlotterte vor Erschöpfung und Kälte. Beide Frauen kamen auf mich zugerannt und zogen mich auf die Füße. Dann packten sie mich unter den Ellbogen und flogen mit mir so schnell die Treppe hinab, dass ich vor Kälte bibberte. Unten in der großen Halle zog Marthe mich zu Matthews Zimmer, während Ysabeau in die entgegengesetzte Richtung wollte.
»Mein Zimmer ist näher«, erklärte Matthews Mutter scharf.
»Aber in seiner Nähe wird sie sich sicherer fühlen«, wandte Marthe ein.
Mit einem gereizten Schnaufen gab sich Ysabeau geschlagen.
Unten an der Treppe zu Matthews
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