Seelen der Nacht
erhob sich mit jener Geschmeidigkeit, an der man zweifelsfrei den Vampir erkannte.
Eine lange, schlanke Hand senkte sich zu mir herab. »Komm. Dir wird kalt, wenn du auf dem Boden kniest.«
Ich legte meine Hand in seine, stand auf und fragte mich, wer den Hirschkadaver beseitigen würde. Wahrscheinlich würden sich Marthe und Georges darum kümmern. Rakasa graste zufrieden, ohne sich darum zu kümmern, dass direkt neben ihr ein totes Tier lag. Ohne dass ich gewusst hätte warum, war ich plötzlich rasend hungrig.
Rakasa , rief ich sie lautlos. Sie sah auf und kam zu mir.
»Stört es dich, wenn ich etwas esse?«, fragte ich unsicher, weil ich nicht genau abschätzen konnte, wie Matthew darauf reagieren würde.
Sein Mund zuckte. »Nein. Nach dem, was du heute ansehen musstest, kann ich zumindest zusehen, wie du ein Sandwich isst.«
»Für mich gibt es da jedenfalls keinen Unterschied, Matthew.« Ich löste die Schnalle von Rakasas Satteltasche und schickte ein stilles Dankeswort zum Château. Marthe, die Gute, hatte Käsesandwiches eingepackt. Nachdem ich den schlimmsten Hunger gestillt hatte, wischte ich die Krümel von meinen Händen.
Matthew beobachtete mich mit dem Blick eines Falken. »Stört dich das eigentlich?«, fragte er ruhig.
»Was?« Ich hatte ihm doch schon gesagt, dass es mich nicht störte, wie er den Hirsch getötet hatte.
»Blanca und Lucas. Dass ich verheiratet war und ein Kind hatte.«
»Mich stört nicht ein einziger Moment, in dem du irgendein Geschöpf,
ob lebendig oder tot, geliebt hast«, sagte ich zögernd, »solange du nur in diesem Moment mit mir zusammen sein willst.«
»Nur in diesem Moment?«, fragte er, eine Braue zu einem Fragezeichen hochgezogen.
»Es ist der einzige Moment, der zählt.« Eigentlich war alles ganz einfach. »Wer so lange gelebt hat wie du, hat auch eine Vergangenheit, Matthew. Du warst kein Mönch, und ich erwarte nicht, dass du alle vergisst, die du unterwegs zurücklassen musstest. Wie sollte es möglich sein, dass du noch nie geliebt wurdest, wo ich dich so sehr liebe?«
Matthew drückte mich an seine Brust. Ich schmiegte mich glücklich an ihn, froh, dass die Jagd nicht in einer Katastrophe geendet hatte und dass sein Zorn nachzulassen schien. Er glomm immer noch – das erkannte ich an der Anspannung in seinem Gesicht und seinen Schultern –, aber er drohte uns nicht mehr zu verschlingen. Seine langen Finger umfassten mein Kinn und hoben mein Gesicht an.
»Würde es dich sehr stören, wenn ich dich jetzt küssen würde?« Matthew wandte kurz den Blick ab, als er das fragte.
»Natürlich nicht.« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um seinem Mund näher zu kommen. Als er dennoch zögerte, streckte ich die Arme nach oben und verschränkte die Hände hinter seinem Hals. »Sei kein Idiot. Küss mich.«
Er tat es, kurz, aber fest. Auf seinen Lippen lag noch eine Spur von Blut, aber das war weder gruselig noch unangenehm. Es war einfach Matthew.
»Du weißt, dass wir keine Kinder bekommen können«, sagte er und hielt mich dabei so fest in den Armen, dass sich unsere Gesichter fast berührten. »Vampire können auf traditionelle Weise keine Kinder zeugen. Macht dir das etwas aus?«
»Man kann auf mehr als eine Weise Kinder bekommen.« Über Kinder hatte ich mir bis dahin noch nie Gedanken gemacht. »Ysabeau hat dich gemacht, und du gehörst genauso zu ihr wie Lucas zu dir und Blanca gehörte. Außerdem gibt es so viele Kinder auf der Welt, die keine Eltern haben.« Ich musste an den Moment denken, als Sarah
und Em mir eröffnet hatten, dass meine Eltern nicht mehr nach Hause kommen würden. »Wir könnten welche aufnehmen – ein ganzes Waisenhaus voll, wenn wir wollten.«
»Ich habe seit vielen Jahren keinen Vampir mehr gemacht«, sagte er. »Ich kann es immer noch, aber ich hoffe, du wünschst dir keine große Familie.«
»Meine Familie hat sich mit dir, Marthe und Ysabeau in den vergangenen drei Wochen verdoppelt. Ich weiß nicht, ob ich noch mehr Familienmitglieder ertragen würde.«
»Einen musst du noch hinzuzählen.«
Meine Augen wurden groß. »Eure Familie ist noch größer?«
»Oh, viel größer«, meinte er trocken. »Unsere Stammbäume sind deutlich komplizierter als die von euch Hexen. Schließlich haben wir immer drei Abstammungslinien, nicht nur zwei. Aber ich meine ein Familienmitglied, das du bereits kennst.«
»Marcus?« Ich dachte an den jungen amerikanischen Vampir und seine Chucks.
Matthew nickte. »Er wird dir
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