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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Harkness
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Schätzen zurück. »Bitte sehr. Tischnummer?«
    »A4.« Dort saß ich immer, in der abgelegenen Südostecke im Selden End, wo das Licht am angenehmsten war.
    Mr Johnson kam auf mich zugerauscht. »Ähm, Dr. Bishop, wir haben Professor Clairmont an A3 gesetzt. Vielleicht möchten Sie heute lieber an A1 oder A6 sitzen.« Er trat nervös vom einen Fuß auf den anderen, schob sich die Brille auf die Nase und blinzelte mich durch die dicken Gläser an.
    Ich starte ihn fassungslos an. »Professor Clairmont?«
    »Genau. Er arbeitet an den Needham-Papieren und bat um einen Tisch mit gutem Licht und viel Platz, auf dem er sich ausbreiten kann.«
    »Joseph Needham, dem Historiker, der sich mit chinesischer Wissenschaft befasst hat?« Unter meinem Solarplexus begann das Blut zu brodeln.
    »Genau. Er war natürlich auch Biochemiker  – daher Professor Clairmonts Interesse«, erklärte Mr Johnson, der mit jeder Sekunde zappeliger wirkte. »Möchten Sie vielleicht an A1 sitzen?«
    »Ich nehme lieber A6.« Die Vorstellung, neben einem Vampir zu sitzen, war ausgesprochen beklemmend, selbst wenn uns ein freier Tisch trennte. An Tisch A1 würde ich ihm allerdings gegenübersitzen, und das war völlig undenkbar. Wie sollte ich mich konzentrieren, wenn ich mich stets fragen musste, was diese unergründlichen Augen wohl sahen? Wären die Tische im mittelalterlichen Flügel nicht so schrecklich unbequem gewesen, hätte ich mich lieber unter eine der Wasserspeierfiguren geflüchtet, die dort die schmalen Fenster bewachten, und mich stattdessen Gillian Chamberlains strengen Blicken ausgesetzt.
    »Ach, das ist ja grandios. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.« Mr Johnson seufzte erleichtert auf.
    Als ich in das Licht im Selden End trat, kniff ich unwillkürlich die
Augen zusammen. Clairmont wirkte ausgeruht und wie aus dem Ei gepellt, und die blasse Haut zeichnete sich heute noch deutlicher gegen die dunklen Haare ab. Heute trug er einen grauen Pullover mit grünem Muster und wieder mit übergroßem Halsausschnitt, sein Kragen stand hinten leicht hoch. Ein verstohlener Blick unter den Tisch ließ eine dunkelgraue Hose, passende Socken und schwarze Schuhe erkennen, die mit Sicherheit mehr kosteten als die gesamte Garderobe eines gewöhnlichen Gelehrten.
    Die diffuse Beklemmung meldete sich zurück. Was hatte Clairmont in der Bibliothek zu suchen? Warum war er nicht in seinem Labor?
    Ich ging auf den Vampir zu, ohne dass ich mich bemüht hätte, besonders leise zu sein. Clairmont saß schräg vor mir am anderen Ende der Tische und las ungerührt weiter, so als hätte er mich gar nicht gehört. Ich ließ meine Plastiktüte und den Manuskriptstapel auf den mit A5 gekennzeichneten Platz fallen, um die Außengrenze meines Territoriums zu markieren.
    Er blickte auf und zog scheinbar überrascht die Brauen hoch. »Dr. Bishop. Guten Morgen.«
    »Professor Clairmont.« Mir dämmerte, dass er wahrscheinlich alles mitgehört hatte, was an der Ausleihtheke gesprochen worden war. Schließlich verfügte er über das Gehör einer Fledermaus. Ich weigerte mich, ihm in die Augen zu sehen, und zog stattdessen einen Gegenstand nach dem anderen aus meiner Tüte, bis ich zwischen mir und dem Vampir einen kleinen Verteidigungswall aus Schreibwaren errichtet hatte. Clairmont schaute mir zu, bis mir das Material ausging, dann senkte er konzentriert die Brauen und las weiter.
    Ich holte das Netzkabel für meinen Computer heraus und krabbelte unter den Tisch, um es einzustecken. Als ich wieder auftauchte, las er immer noch, musste sich aber Mühe geben, nicht zu lächeln.
    »Dabei würdest du dich am Nordende bestimmt viel wohler fühlen«, grummelte ich vor mich hin, während ich nach meiner Manuskriptliste suchte.
    Clairmont sah auf, die weiten Pupillen ließen seine Augen plötzlich dunkel aussehen. »Störe ich Sie vielleicht, Dr. Bishop?«

    »Natürlich nicht«, sagte ich hastig und merkte, wie sich unter dem heftigen, scharfen Nelkenaroma, das seine Worte begleitete, meine Kehle zusammenzog. »Es überrascht mich nur, dass Sie einen Platz im Sonnenlicht vorziehen.«
    »Sie glauben doch nicht alles, was Sie lesen, oder?« Wieder hob sich eine dicke schwarze Braue zu einem angedeuteten Fragezeichen.
    »Wenn Sie damit meinen, ob ich glaube, dass Sie in Flammen aufgehen, sobald ein Sonnenstrahl Sie trifft, lautet die Antwort nein.« Vampire verbrannten nicht im Sonnenlicht, und sie hatten auch keine Fangzähne. Beides waren menschliche Mythen. »Aber mir ist

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