Seelen der Nacht
auch noch nie … jemand wie Sie begegnet, der gern Sonnenbäder genommen hätte.«
Clairmont bewegte keinen Muskel, doch ich hätte schwören können, dass er ein Lachen unterdrückte. »Wieviel Umgang hatten Sie denn schon mit ›jemandem wie mir‹, Dr. Bishop?«
Woher wusste er, dass ich noch nicht viele Erfahrungen mit Vampiren gesammelt hatte? Vampire verfügten über übermenschlich scharfe Sinne und enorme Kräfte – aber sie hatten keine übernatürlichen Fähigkeiten wie Gedankenlesen oder Hellseherei. Diese waren den Hexen vorbehalten oder zeigten sich höchstens ganz selten einmal bei einem Dämon. Dies war die natürliche Ordnung, hatte mir meine Tante erklärt, als ich noch ein Kind gewesen war und nicht schlafen konnte, weil ich Angst hatte, dass mir ein Vampir die Gedanken stehlen und damit aus dem Fenster fliegen könnte.
Ich studierte ihn genauer. »Irgendwie, Professor Clairmont, habe ich das Gefühl, dass mir nicht einmal noch so lange Erfahrung verraten würde, was mich wirklich interessiert.«
»Wenn ich kann, werde ich Ihre Frage liebend gern beantworten.« Er schloss sein Buch und legte es auf dem Lesetisch ab. Dann sah er mich mit dem geduldigen Ausdruck eines Lehrers an, der einer aufmüpfigen und nicht besonders intelligenten Schülerin zuhört.
»Was wollen Sie eigentlich hier?«
Clairmont lehnte sich zurück und ließ die Hände auf die Armlehnen seines Stuhles sinken. »Ich will Dr. Needhams Schriften durchgehen,
um festzustellen, wie sich seine Vorstellungen zur Morphogenese fortentwickelt haben.«
»Morphogenese?«
»Jene Veränderungen in der embryonalen Zelle, die zu einer Differenzierung führen …«
»Ich weiß, was Morphogenese ist, Professor Clairmont. Danach habe ich nicht gefragt.«
Sein Mund zuckte. Ich verschränkte abweisend die Arme vor der Brust.
»Ich verstehe.« Er legte die Spitzen seiner langen Finger aufeinander und ließ dabei die Ellbogen auf den Armlehnen ruhen. »Ich kam gestern Abend in Bodleys Bibliothek, um einige Manuskripte anzufordern. Als ich hier war, beschloss ich, mich ein wenig umzusehen – ich weiß gern über meine Umgebung Bescheid und bin nicht oft hier, müssen Sie wissen. Dann sah ich Sie auf der Galerie stehen. Und natürlich hat mich das, was ich danach zu sehen bekam, einigermaßen überrascht.« Seine Mundwinkel zuckten schon wieder.
Ich errötete bei der Erinnerung, wie ich Magie eingesetzt hatte, nur um ein Buch aus dem Regal zu holen. Und ich bemühte mich, wenn auch mit wenig Erfolg, mich nicht von der altmodischen Bezeichnung »Bodleys Bibliothek« bezaubern zu lassen.
Vorsichtig, Diana, warnte ich mich. Er versucht dich zu umgarnen.
»Sie wollen mir also erzählen, wir hätten es hier lediglich mit einer Folge von kuriosen Zufällen zu tun, die darin gipfeln, dass ein Vampir und eine Hexe im selben Raum sitzen und wie ganz gewöhnliche Bibliotheksbesucher Manuskripte studieren?«
»Ich glaube nicht, dass mich jemand für gewöhnlich halten könnte, meinen Sie nicht auch?« Clairmonts ohnehin leise Stimme senkte sich zu einem ironischen Flüstern, und er beugte sich vor. Seine bleiche Haut kam ins Licht und schien dabei aufzuglühen. »Aber ansonsten, ja. Es handelt sich lediglich um eine Folge von leicht zu erklärenden Zufällen.«
»Ich dachte, Wissenschaftler glauben nicht mehr an Zufälle.«
Er lachte leise. »Irgendwer muss schließlich daran glauben.«
Clairmont starrte mich weiter an, was extrem nervenaufreibend war. Die neue Bibliothekarin rollte das uralte hölzerne Bibliothekswägelchen mit mehreren akkurat ausgerichteten Manuskriptkartons an den Ellbogen des Vampirs.
Der Vampir riss den Blick von mir los. »Vielen Dank, Valerie. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«
»Natürlich, Professor Clairmont.« Valerie starrte verzückt in seine Augen und lief zartrosa an. Der Vampir hatte sie mit einem schlichten Dankeschön um den Finger gewickelt. Ich schnaubte. »Bitte sagen Sie Bescheid, wenn Sie noch etwas benötigen«, flötete sie und kehrte in ihren Kaninchenbau am Eingang zurück.
Clairmont griff nach dem ersten Karton, löste mit langen Fingern die Schnur und sah mich über den Lesetisch hinweg an. »Ich will Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten.«
Matthew Clairmont hatte die Oberhand behalten. Ich hatte oft genug mit ranghöheren Kollegen zu tun gehabt, um die Zeichen deuten zu können, und wusste daher, dass jede Erwiderung alles nur noch verschlimmern würde. Ich klappte meinen Computer
Weitere Kostenlose Bücher