Seelen der Nacht
passenden Grün und ein Baumwollhemd mit geknöpftem Kragen und Tintenflecken an der Hemdtasche –, und ich wollte ihn schon als ganz gewöhnlichen Oxford-Gelehrten abtun, als mir das Kribbeln auf meiner Haut verriet, dass er ein Hexer war. Doch nachdem ich ihn nicht kannte, konzentrierte ich mich wieder auf mein Manuskript.
Ein leichter Druck im Hinterkopf machte es mir allerdings unmöglich, weiterzulesen. Der Druck breitete sich bis zu den Ohren aus und wurde dabei immer intensiver, bis er sich schließlich um meine Stirn schlang und sich mein Magen in panischer Angst verkrampfte. Das war kein stummer Gruß mehr, das war schon eine Drohung. Aber warum sollte mich eine andere Hexe bedrohen?
Der Hexer kam scheinbar lässig auf meinen Tisch zugeschlendert. Als er sich näherte, begann eine Stimme in meinem inzwischen pulsierenden
Schädel zu flüstern. Sie war zu leise, als dass ich wirklich verstanden hätte, was sie sagte. Ich war jedoch sicher, dass sie von diesem Hexer stammte, aber wer in aller Welt war das?
Ich merke, dass ich flacher atmete. Scher dich verflucht noch mal aus meinem Kopf, wehrte ich mich entschieden, wenn auch lautlos, und legte dabei die Hand an die Stirn.
Clairmont bewegte sich so schnell, dass ich gar nicht sah, wie er hinter seinem Tisch hervorkam. Im nächsten Augenblick stand er neben mir und hatte eine Hand auf die Rückenlehne meines Stuhles, die andere auf die Tischplatte gestützt. Seine breiten Schultern schirmten mich ab wie die Schwingen eines Falken, der seine Beute für sich behalten will.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
»Es geht mir gut«, erwiderte ich wacklig und vollkommen entgeistert, dass mich ein Vampir vor einer anderen Hexe beschützen musste.
In der Galerie über uns renkte sich eine Leserin fast den Hals aus, um zu erkennen, was hier unten los war. Zwei Hexen und ein Vampir waren für einen Menschen unmöglich zu übersehen.
»Lassen Sie mich in Ruhe. Die Menschen haben uns bemerkt«, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Clairmont richtete sich zu seiner vollen Größe auf, wandte dem Hexer aber weiterhin den Rücken zu.
»Verzeihung, mein Fehler«, hörte ich den Hexer hinter Clairmonts Rücken murmeln. »Ich dachte, dieser Tisch sei frei. Verzeihung.« Leise Schritte verhallten in der Ferne, und der Druck auf meinem Kopf löste sich wieder.
Ich spürte eine leichte Brise, als die kalte Hand des Vampirs nach meiner Schulter fassen wollte, innehielt und sich wieder auf die Stuhllehne senkte. Clairmont beugte sich vor. »Sie sehen blass aus«, bemerkte er leise mit tiefer Stimme. »Soll ich Sie vielleicht nach Hause bringen?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf und hoffte, dass er auf seinen Platz zurückkehren würde. Die menschliche Leserin auf der Galerie behielt uns argwöhnisch im Auge.
»Dr. Bishop, ich glaube, es wäre wirklich besser, wenn ich Sie nach Hause bringen würde.«
»Nein!« Meine Stimme war lauter als beabsichtigt. Ich senkte sie zu einem Flüstern. »Ich lasse mich nicht aus dieser Bibliothek vertreiben – weder von Ihnen noch von irgendwem sonst.«
Clairmonts Gesicht war meinem beklemmend nahe. Er atmete tief ein, und wieder wehte mir der überwältigende Duft von Zimt und Nelken entgegen. Offenbar überzeugte ihn mein Blick, dass ich es ernst meinte, denn er richtete sich auf. Sein Mund wurde zu einer strengen Linie, und er kehrte an seinen Platz zurück.
Den Rest des Nachmittags verbrachten wir in einem angespannten Waffenstillstand. Ich bemühte mich, bei meiner Lektüre endlich über die zweite Seite meines ersten Manuskriptes hinwegzukommen, und Clairmont ackerte sich mit der Konzentration eines Richters in einem komplizierten Mordfall durch seine Papiere und eng beschriebenen Notizbücher.
Um drei waren meine Nerven so zerschlissen, dass ich mich nicht länger konzentrieren konnte. Der Tag war verloren.
Ich sammelte meine verstreuten Habseligkeiten ein und schob das Manuskript in den Karton zurück.
Clairmont sah auf. »Sie gehen schon, Dr. Bishop?« Er klang mitfühlend, aber seine Augen funkelten.
»Ja«, fauchte ich ihn an.
Seine Miene blieb absolut ausdruckslos.
Alle Geschöpfe in der Bibliothek sahen mir hinterher, als ich ging – der bedrohliche Hexer, Gillian, der Vampirmönch, sogar der Dämon. Die Nachmittagskraft an der Ausleihtheke kannte ich nicht, weil ich noch nie um diese Zeit heimgegangen war. Mr Johnson schob seinen Stuhl ein paar Zentimeter zurück, erkannte mich
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