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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Harkness
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auf, drückte energischer, als nötig gewesen wäre, die Starttaste und beugte mich über mein erstes Manuskript. Nachdem ich den Karton aufgeschnürt hatte, legte ich den in Leder gebundenen Band in die Halterung auf meinem Tisch.
    Während der nächsten anderthalb Stunden las ich die ersten Seiten mindestens dreißigmal. Ich begann ganz oben bei den vertrauten Zeilen jenes angeblich von George Ripley stammenden Gedichtes, das versprach, die Geheimnisse des Steines der Weisen zu lüften. Nach den Überraschungen, die dieser Morgen mit sich gebracht hatte, erschienen mir die Beschreibungen im Gedicht, wie der Grüne Löwe zu erschaffen sei und der Schwarze Drache und wie aus verschiedenen chemischen Zutaten ein mystisches Blut zusammenzurühren sei, noch unverständlicher als sonst.
    Im Gegensatz zu mir bewältigte Clairmont bergeweise Arbeit und bedeckte Seite um Seite seines cremefarbenen Papiers mit blitzschnellen Schwüngen seines Füllfederhalters, einem Montblanc-Meisterstück .
Ab und an blätterte er so laut raschelnd um, dass ich mit zusammengebissenen Zähnen von vorn anfangen musste.
    Gelegentlich schwebte Mr. Johnson durch den Raum und stellte sicher, dass niemand seine Bücher beschmierte. Der Vampir schrieb weiter wie besessen. Ich fixierte beide wutentbrannt.
    Um zehn Uhr fünfundvierzig spürte ich ein vertrautes Kribbeln, als Gillian Chamberlain ins Selden End gerauscht kam. Sie steuerte direkt auf mich zu  – zweifellos, um mir zu erzählen, wie blendend sie sich auf der gestrigen Mabon-Feier unterhalten hatte. Dann sah sie den Vampir und ließ ihre Plastiktüte mit Stiften und Papieren fallen. Er blickte auf und starrte sie an, bis sie in den Mittelalterflügel davonhuschte.
    Um elf Uhr zehn spürte ich den heimtückischen Druck eines Kusses im Genick. Es war der verwirrte, koffeinsüchtige Dämon aus der Musikbibliothek. Er wirbelte zwei weiße Plastikohrhörer um den Zeigefinger und ließ sie durch die Luft kreiseln. Dann nickte der Dämon Matthew zu und setzte sich an einen der Computer in der Mitte des Raumes. Am Bildschirm klebte ein Zettel: AUSSER BETRIEB, REPARATUR VERANLASST. Dort blieb er während der nächsten Stunden sitzen, wobei er in regelmäßigen Abständen über seine Schulter und danach an die Decke starrte, so als versuche er herauszufinden, wo er war und wie er dorthin gelangt sein mochte.
    Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder George Ripley zu, obwohl ich Clairmonts Eisblick auf meinem Scheitel spürte.
    Um elf Uhr vierzig erblühten erneut eisige Flecken zwischen meinen Schulterblättern.
    Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sarah behauptete immer, eines von zehn menschlich aussehenden Wesen sei kein Mensch, doch heute Morgen waren fünfmal so viele nichtmenschliche Geschöpfe wie Menschen im Duke-Humfrey-Lesesaal. Woher waren sie alle gekommen?
    Ich sprang auf, wirbelte herum und erschreckte dabei einen pausbäckigen Vampir mit Tonsur, der einen Stapel mittelalterlicher Messbücher vor sich her trug und sich gerade auf einen Stuhl sinken lassen wollte, der entschieden zu fragil für ihn war. Dass ihm so plötzlich
so viel unerwünschte Aufmerksamkeit zuteilwurde, ließ ihn kurz aufquietschen. Dann sah er Clairmont und wurde noch bleicher, als ich es bei einem Vampir für möglich gehalten hätte. Unter einer verlegenen Verbeugung floh er zurück in die dunklen Eingeweide der Bibliothek.
    Im Verlauf des Nachmittags tauchten  – neben einigen Menschen  – drei weitere Geschöpfe im Selden End auf.
    Zwei mir unbekannte weibliche Vampire, dem Anschein nach Schwestern, schwebten an Clairmont vorbei und blieben vor den Regalen mit den lokalhistorischen Titeln stehen, zogen ein paar Bände über die frühzeitliche Besiedlung von Bedfordshire und Dorset heraus und kritzelten danach abwechselnd Unmengen von Notizen auf ein einzelnes Blatt Papier. Eine von beiden flüsterte etwas, und Clairmonts Kopf zuckte so schnell herum, dass der Hals jedes anderen Wesens dabei abgeknickt wäre. Er stieß ein leises Zischen aus, bei dem sich meine Nackenhaare aufstellten. Die beiden sahen sich kurz an und zogen so leise ab, wie sie gekommen waren.
    Das dritte Geschöpf war ein älterer Mann, der sich genau in einen Sonnenstrahl stellte und verzückt auf die Bleiglasfenster schaute, bevor er sich zu mir umdrehte. Er trug die traditionelle Akademikeruniform  – ein braunes Tweedsakko mit Wildlederflicken an den Ellbogen, dazu eine Cordhose in einem nicht wirklich

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