Seelen der Nacht
mutterseelenallein durch die Zeit reiste, wich schnell dem Hochgefühl, dass ich damit die Macht besaß, jede historische Frage aus erster Hand zu beantworten. Meine Laune hellte sich augenblicklich auf.
Matthew hatte diese Verbindung sofort gezogen und wartete geduldig ab, bis ich ihn gedanklich eingeholt hatte. »Ganz gleich, was dein Vater wollte, du wirst nicht ins Jahr 1859 zurückreisen«, erklärte er fest und drehte dabei den Stuhl um, sodass ich ihn ansehen musste. »Du wirst auf keinen Fall an der Zeit herumdoktern. Kapiert?«
Selbst nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich in der Gegenwart bleiben würde, durfte ich von nun an keine Sekunde allein sein. Die drei reichten mich in einer stillschweigenden Choreografie, die eines Broadway-Musicals würdig gewesen wäre, von einem zum anderen weiter. Em begleitete mich nach oben, um nachzusehen, ob noch Handtücher da waren, obwohl ich genau wusste, wo der Wäscheschrank stand. Als ich aus dem Bad kam, lag Matthew auf dem Bett und spielte an seinem Handy herum. Er blieb oben, als ich nach unten ging, um mir eine Tasse Tee zu machen, weil er wusste, dass Sarah und Em mich im Familienzimmer erwarten würden.
Als ich Marthes Dose in der Hand hielt, überfiel mich das schlechte Gewissen, weil ich gestern keinen Tee getrunken und damit mein Versprechen gebrochen hatte. Fest entschlossen, heute eine Tasse zu trinken, füllte ich den Wasserkessel und öffnete die schwarze Blechdose. Sobald ich die Weinraute roch, spürte ich bei der Erinnerung daran, wie Satu mich in die Luft gezogen hatte, einen schmerzhaften Stich. Ich packte den Deckel fester und konzentrierte mich auf die anderen Duftnoten und damit auf die glücklicheren Erinnerungen an Sept-Tours. Ich vermisste die grauen Steinmauern, die Gärten, Marthe, Rakasa – und sogar Ysabeau.
»Woher hast du das, Diana?« Sarah kam in die Küche und deutete auf die Dose.
»Marthe und ich haben ihn gemacht.«
»Die Haushälterin seiner Mutter? Die auch die Medizin für deinen Rücken angerührt hat?«
»Marthe ist Ysabeaus Haushälterin, genau. Vampire haben Namen, genau wie Hexen. Du solltest sie lernen.«
Sarah schniefte. »Ich hätte gedacht, du gehst zum Arzt und holst dir ein Rezept, statt dich auf alte Kräuter zu verlassen.«
»Dr. Fowler verschreibt dir bestimmt etwas, falls du etwas Zuverlässigeres brauchst.« Auch Em war inzwischen in die Küche gekommen. »Nicht mal Sarah hält allzu viel von pflanzlichen Verhütungsmitteln.«
Ich überspielte meine Verwirrung, indem ich einen Teebeutel in die Tasse fallen ließ, und versuchte meinen Geist zu leeren, um mir nichts anmerken zu lassen. »Das reicht schon. Ich muss nicht zu Dr. Fowler gehen.«
»Stimmt. Nicht wenn du mit einem Vampir schläfst. Sie pflanzen sich nicht fort – jedenfalls nicht so, dass man es mit einem Verhütungsmittel verhindern könnte. Du musst nur deinen Hals von seinen Zähnen fernhalten.«
»Ich weiß, Sarah.«
Was gelogen war. Warum hatte Marthe so viel Mühe darauf verwendet, mir beizubringen, wie ich einen völlig unnötigen Tee zusammenstellen konnte? Matthew hatte mir erklärt, dass er keine Kinder zeugen konnte, so wie Warmblüter das taten. Ich brach das Versprechen, das ich Marthe gegeben hatte, kippte die halb geleerte Tasse ins Spülbecken und versenkte den Beutel im Müll. Die Dose wanderte auf das oberste Regalfach, wo ich sie nicht mehr zu sehen brauchte.
Am Spätnachmittag hatten wir uns ausgiebig über die Nachricht, den Brief und das Bild unterhalten, ohne dass wir der Lösung des Rätsels um Ashmole 782 einen Schritt nähergekommen wären oder begriffen hätten, inwiefern mein Vater damit zu tun hatte. Meine Tanten machten sich daran, das Abendessen vorzubereiten, was bedeutete, dass Em ein Hähnchen briet, während Sarah sich ein Glas Bourbon
genehmigte und bemängelte, dass so viel Gemüse zubereitet wurde. Matthew tigerte ungewöhnlich ruhelos um die Kücheninsel herum.
»Komm schon«, sagte er und nahm meine Hand. »Du brauchst Bewegung.«
Er brauchte frische Luft, nicht ich, aber die Aussicht, nach draußen zu gehen, war verlockend. Ich durchwühlte den Schrank im Vorraum und förderte meine alten Joggingschuhe zutage. Sie waren zwar ausgelatscht, aber deutlich bequemer als Sarahs Stiefel.
Wir schafften es gerade bis zu den ersten Apfelbäumen, da wirbelte Matthew mich herum und nahm mich zwischen seinem Körper und einem alten, knorrigen Baumstamm gefangen. Die tiefen, weiten Äste
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