Seelen der Nacht
protestieren wollte, »aber das ist etwas anderes. Vergiss nicht, deine Eltern haben deine Magie mit einem Bann belegt, damit dich niemand zwingen kann, deine Kräfte einzusetzen. Mit dem Bann, der auf dem Manuskript liegt, verhält es sich nicht anders.«
»Als ich Ashmole 782 das erste Mal abgerufen habe, wollte ich lediglich einen Punkt auf meiner Erledigungsliste abhaken. Ich kann mir kaum vorstellen, dass etwas so Belangloses eine solche Reaktion auslösen kann.«
»Deine Mutter und dein Vater konnten nicht alles vorhersehen – zum Beispiel die Tatsache, dass du dich eines Tages beruflich mit der Geschichte der Alchemie beschäftigen und daher regelmäßig in der Bodleian Library arbeiten würdest. Konnte auch Rebecca durch die Zeit wandern?«, fragte Matthew Sarah.
»Nein. Die Gabe ist höchst selten, und die begabtesten Zeitwanderer sind gewöhnlich auch erfahrene Hexer. Wenn man die richtigen Zaubersprüche und Vorsichtsmaßnahmen nicht kennt, kann man leicht irgendwo enden, wo man lieber nicht sein möchte, ganz egal, über welche magischen Kräfte man verfügt.«
»Ja«, bestätigte Matthew trocken. »Ich wüsste mehr als genug Zeiten und Orte, an denen man lieber nicht landen möchte.«
»Rebecca hat Stephen manchmal begleitet, aber dann musste er sie tragen.« Sarah lächelte Em an. »Erinnerst du dich noch an Wien? Stephen hatte beschlossen, dass er mit ihr Walzer tanzen wollte. Dann brachte er ein ganzes Jahr damit zu, sich zu überlegen, welche Haube sie für die Reise aufsetzen sollte.«
»Um zu verhindern, dass man sich verirrt, braucht man drei Objekte aus der Zeit und von dem Ort, an den man reisen möchte«, erläuterte Em. »Wenn man in die Zukunft reisen will, geht das nur mit Hexerei, weil man anders sofort die Orientierung verliert.«
Sarah griff nach dem Bild der chemischen Vermählung, gerade als interessiere sie sich nicht mehr fürs Zeitwandern. »Wofür steht das Einhorn?«
»Vergiss das Einhorn, Sarah«, sagte ich ungeduldig. »Daddy wollte bestimmt nicht, dass ich in die Vergangenheit reise, um das Manuskript zu holen. Hat er etwa gedacht, ich könnte wie er durch die Zeit wandern und es mir beschaffen, bevor es verhext wurde? Und wenn ich dort zufällig Matthew über den Weg laufen würde? Das würde das Raum-Zeit-Kontinuum ganz schön durcheinanderbringen.«
»Ach, die Relativität«, sagte Sarah abfällig. »Damit lässt sich auch nicht alles erklären.«
»Stephen hat immer behauptet, Zeitwandern sei so, wie am Bahnhof umzusteigen. Du steigst aus einem Zug und wartest am Bahnhof, bis in einem anderen Zug ein Platz frei wird. Wenn du zeitwanderst, verabschiedest du dich aus dem Hier und Jetzt und verharrst außerhalb der Zeit, bis du an einem anderen Zeitpunkt einen Platz für dich findest.«
»Ganz ähnlich wechseln Vampire ihr Leben«, sinnierte Matthew. »Wir verlassen unser altes Leben – indem wir zu sterben vorgeben oder verschwinden oder einfach wegziehen – und suchen uns ein neues. Es ist wirklich erstaunlich, wie leicht man aus einer Heimat, einem Job und einer Familie verschwinden kann.«
»Aber irgendwem fällt doch bestimmt auf, dass der Nachbar, den man letzte Woche noch gegrüßt hat, plötzlich ganz anders aussieht«, protestierte ich.
»Das ist wirklich erstaunlich«, gab Matthew zu. »Aber solange man seine Wahl mit Bedacht trifft, sagt niemand etwas. Ein paar Jahre im Heiligen Land, eine lebensbedrohliche Krankheit, die Wahrscheinlichkeit, ein Erbe zu verlieren – all das bietet Kreaturen wie Menschen einen exzellenten Vorwand, sich blind und taub zu stellen.«
»Na ja, ob es nun möglich ist oder nicht, ich kann jedenfalls nicht zeitwandern. Das stand nicht in meiner DNA-Analyse.«
»Natürlich kannst du zeitwandern. Das hast du schon als Kind gemacht.« Nicht ohne Arroganz tat Sarah Matthews wissenschaftliche Erkenntnisse als Unfug ab. »Zum ersten Mal, als du drei warst. Deine Eltern litten Todesängste, die Polizei rückte aus – es gab ein riesiges Tohuwabohu. Vier Stunden später hast du plötzlich in deinem Hochstuhl in der Küche gesessen und ein Stück Geburtstagstorte gefuttert.
Offenbar hattest du Hunger bekommen und warst zu deiner eigenen Geburtstagsfeier zurückgereist. Wenn du danach wieder mal verschwunden warst, haben wir einfach gehofft, dass du in einer anderen Zeit steckst und irgendwann wieder auftauchen würdest. Und du warst oft verschwunden!«
Mein Entsetzen über die Vorstellung, dass ein Kleinkind
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