Seelen der Nacht
alchemistischen Handschrift.
»Warum ist die Seite so schwer?« Sarah nahm das Blatt hoch und wog es nachdenklich in der Hand.
»Für mich fühlt es sich nicht ungewöhnlich schwer an«, gestand Matthew und nahm es ihr aus der Hand. »Dafür riecht es eigentümlich, finde ich.«
Sarah schnupperte ausgiebig. »Nein, es riecht einfach alt.«
»Es ist nicht nur das. Wie alt riecht, weiß ich schließlich«, widersprach er ironisch.
Em und ich beschäftigten uns vor allem mit der rätselhaften Nachricht.
»Was soll das wohl bedeuten?«, fragte ich, zog mir einen Stuhl heraus und setzte mich.
»Ich bin mir nicht sicher.« Em zögerte. »Blut steht gewöhnlich für die Familie, den Krieg oder den Tod. Aber was soll Mangel bedeuten? Dass dem Buch diese Seite fehlt? Oder sollten deine Eltern damit gewarnt werden, dass sie nicht erleben würden, wie du aufwächst?«
»Nimm doch mal die letzte Zeile. Haben meine Eltern in Afrika irgendwas gefunden?«
»Oder warst du dieser Hexenfund?«, schlug Em freundlich vor.
»Die letzte Zeile hat bestimmt etwas damit zu tun, dass Diana Ashmole 782 entdeckt hat«, mischte sich Matthew ein und sah dabei kurz von der chemischen Vermählung auf.
»Du glaubst, dass es immer nur um mich und das Manuskript geht«, beschwerte ich mich. »In den Zeilen wird auch das Thema deines Essays für das All Souls College erwähnt – Angst und Verlangen. Findest du das nicht eigenartig?«
»Nicht eigenartiger als die Tatsache, dass die weiße Königin auf diesem Bild mein Wappen trägt.« Matthew brachte mir die Darstellung.
»Sie verkörpert das Quecksilber – das in der Alchemie für das Prinzip der Flüchtigkeit steht«, erklärte ich ihm.
»Quecksilber?« Matthew schmunzelte. »Ein metallisches Perpetuum mobile?«
»Könnte man so sagen.« Ich lächelte ebenfalls, weil ich an den Ball voll Lebensenergie denken musste, den ich ihm gegeben hatte.
»Was ist mit dem roten König?«
»Er ist stabil und geerdet.« Ich zog die Stirn in Falten. »Aber eigentlich sollte er die Sonne darstellen, und die wird nicht in Rot und Schwarz abgebildet. Normalerweise ist er nur rot.«
»Also soll der König vielleicht gar nicht mich und die Königin nicht dich zeigen.« Er berührte das bleiche Königinnengesicht mit der Fingerspitze.
»Vielleicht«, sagte ich langsam, weil mir eben eine Passage aus Matthews Aurora -Handschrift eingefallen war. »Wendet euch mir zu, ihr Menschen, und hört mich an, die ihr diese Welt bevölkert: Mein Geliebter, der rot ist, hat mich zu sich gerufen. Er hat mich gesucht und gefunden. Ich bin die Blume des Feldes, die Lilie der Täler. Ich bin die Mutter der wahren Liebe und der Angst und der Erkenntnis und der heiligen Hoffnung.«
»Was ist das?« Jetzt berührte Matthew mein Gesicht. »Es hört sich beinahe biblisch an, aber irgendwie passen die Worte nicht.«
»Es ist eine Passage aus der Aurora Consurgens , in der es um die chemische
Vermählung geht.« Unsere Blicke trafen und verbanden sich. Als die Luft schwer wurde, wechselte ich das Thema. »Was meinte mein Vater, als er sagte, wir würden weit reisen müssen, um herauszufinden, was das Bild zu bedeuten hat?«
»Die Briefmarke war aus Israel. Vielleicht meinte Stephen, dass wir dorthin zurückkehren müssten.«
»In der Hebräischen Universität in Jerusalem lagern zahllose alchemistische Handschriften. Die meisten davon gehörten Isaac Newton.« Nachdem ich wusste, welche Geschichte Matthew und die Lazarusritter mit diesem Ort verband, war ich nicht allzu scharf darauf, nach Jerusalem zu reisen.
»Nach Israel zu fliegen war für deinen Vater keine weite Reise «, meinte Sarah und setzte sich uns gegenüber. Em ging um den Tisch herum und nahm neben ihr Platz.
»Und was war eine weite Reise?« Matthew griff nach dem Brief meiner Mutter und suchte auf der letzten Seite nach weiteren Anhaltspunkten.
»Das australische Outback. Wyoming. Mali. Dort ging er am liebsten auf Zeitwanderung.«
Das Wort traf mich genauso wie wenige Tage zuvor der Begriff Bannfluch . Ich wusste, dass einige Hexen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hin- und herwechseln konnten, aber ich war nie auf den Gedanken gekommen zu fragen, ob jemand in meiner Familie über diese Fähigkeit verfügt hatte. Sie war selten – fast so selten wie das Hexenfeuer.
»Stephen Proctor konnte durch die Zeit reisen?« Matthew klang so betont neutral wie immer, wenn er sich über Magie unterhielt.
Sarah nickte. »Genau.
Weitere Kostenlose Bücher