Seelen der Nacht
Mindestens einmal im Jahr reiste Stephen in die Vergangenheit oder Zukunft, meistens nach der jährlichen Anthropologentagung in Denver.«
»Auf der Rückseite von Rebeccas Brief steht noch etwas.« Em verdrehte den Hals, um unter das Blatt sehen zu können.
Matthew drehte es schnell um. »Ich habe die Seite fallen lassen, weil ich dich nach draußen bringen wollte, bevor die Hexenflut einsetzte.
Dabei habe ich das völlig übersehen. Es ist nicht in der Handschrift deiner Mutter«, stellte er fest und reichte mir das Blatt.
Die mit Bleistift geschriebenen Buchstaben zeichneten sich durch lange Schlaufen und hohe Spitzen aus. »Vergiss nicht, Diana: Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen .« Irgendwo hatte ich diese Handschrift schon einmal gesehen. In den Tiefen meiner Erinnerung blätterte ich zahllose Bilder durch, um ihre Quelle zu finden, aber ich konnte sie nicht einordnen.
»Wer sollte hinten auf Moms Brief ein Einstein-Zitat schreiben?«, fragte ich Sarah und Em und hielt ihnen das Blatt hin.
»Das sieht nach deinem Dad aus. Er nahm damals Kalligrafiestunden. Rebecca hat ihn die ganze Zeit damit aufgezogen. Seine Handschrift sah hinterher so unglaublich altmodisch aus.«
Langsam drehte ich das Blatt zu mir herum und betrachtete die Handschrift von Neuem. Vom Stil her sah sie tatsächlich aus wie aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sie ähnelte den handschriftlichen Einträgen der Bibliothekare, die während der Regierungszeit von Königin Victoria die Kataloge in der Bodleian Library zusammengestellt hatten. Ich versteifte mich, sah mir die Schrift genauer an und schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist nicht möglich.« Auf gar keinen Fall hatte mein Vater einer dieser Angestellten sein können, auf keinen Fall hatte er im neunzehnten Jahrhundert Ashmole 782 um einen Untertitel ergänzen können.
Andererseits konnte mein Vater durch die Zeit wandeln. Und das Einstein-Zitat war unzweifelhaft an mich gerichtet. Ich legte das Blatt auf den Tisch zurück und ließ den Kopf in die Hände sinken.
Matthew setzte sich neben mich und wartete ab. Als Sarah ungeduldig brummte, brachte er sie mit einer scharfen Geste zum Schweigen. Nach einer Weile drehte sich nicht mehr alles in meinem Kopf, und ich begann zu sprechen.
»Auf der ersten Seite des Manuskripts waren zwei Vermerke. Der eine in Tinte war von Elias Ashmole geschrieben: Anthropologia, oder ein Traktatum über den Menschen. Der zweite war in einer anderen Handschrift und mit Bleistift geschrieben: in zwei Teilen: zum Ersten anatomischer Natur, zum Zweiten psychologischer Natur.«
»Der zweite Vermerk muss später hinzugefügt worden sein«, bemerkte Matthew. »Zu Ashmoles Zeit gab es so etwas wie Psychologie noch nicht.«
»Ich dachte damals, dass er aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt.« Ich zog die Notiz meines Vaters zu mir her. »Aber jetzt könnte ich mir vorstellen, dass mein Vater das geschrieben hat.«
Im Raum wurde es still.
»Berühr die Wörter«, schlug Sarah schließlich vor. »Sieh nach, was sie dir sonst noch verraten.«
Meine Finger wanderten leicht über die Bleistiftbuchstaben. Über der Seite erblühten Bilder, in denen sich mein Vater in einem dunklen Frack mit breiten Aufschlägen und einer hoch sitzenden schwarzen Schleife über einem mit Büchern bedeckten Schreibtisch beugte. Ihnen folgten andere Szenen, in denen er in seiner vertrauten Cordjacke in seinem Arbeitszimmer saß und mit einem Bleistift der Stärke 2 ein paar Zeilen schrieb, während meine Mutter ihm weinend über die Schulter sah.
»Es stammt von ihm.« Meine Finger hoben sich bebend vom Blatt.
Matthew nahm meine Hand. »Damit warst du tapfer genug für einen Tag, ma lionne. «
»Aber dein Vater hat in der Bibliothek nicht die chemische Vermählung aus dem Buch geschnitten«, sinnierte Em. »Was hat er dann dort gewollt?«
»Stephen Proctor hat dort Ashmole 782 verhext, damit niemand außer seiner Tochter es aus dem Archiv abrufen kann.« Matthew klang überzeugt.
»Darum hat der Spruch mich also wiedererkannt. Aber warum hat er nicht genauso reagiert, als ich das Manuskript zum zweiten Mal haben wollte?«
»Weil du es da nicht gebraucht hast. O ja, du wolltest es haben«, erklärte Matthew mit einem leisen Lächeln, als ich
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