Seelen der Nacht
Semesteranfang kaum zu bändigen.«
»Junge Studenten sind prinzipiell kaum zu bändigen, Chris.« Dass ich den Trubel des neuen Semesters verpasste, versetzte mir einen kleinen Stich.
»Du kennst das ja. Aber was führt dich zu mir? Wie kann ich dir helfen?«
Chris und ich hatten uns im gleichen Jahr eine Stelle in Yale gesichert,
und auch er war damals eigentlich zu jung für eine feste Stelle gewesen. Er hatte mich um ein Jahr geschlagen und unterwegs obendrein für seine brillante Arbeit als Molekularbiologe ein Stipendium der renommierten MacArthur-Foundation eingestrichen.
Trotzdem hatte er keineswegs wie ein vergeistigtes Genie reagiert, als ich ihn eines Tages aus heiterem Himmel angerufen und gefragt hatte, warum ein Alchemist wohl zwei bestimmte in einem Destillierkolben erhitzte Substanzen mit den Ästen eines Baumes verglich. Niemand sonst in der chemischen Fakultät hatte mir helfen wollen, doch Chris schickte umgehend zwei Studenten los, die alle benötigten Materialien besorgten, um das Experiment nachzuvollziehen, und bestand dann darauf, dass ich sofort in sein Labor kommen solle. Durch das Glas eines Messbechers hindurch verfolgten wir gemeinsam, wie sich ein Klumpen von grauem Matsch in einer atemberaubenden Evolution in einen roten Baum mit Hunderten von Ästen verwandelte. Seither waren wir befreundet.
Ich holte tief Luft. »Ich habe jemanden kennengelernt.«
Chris stieß einen Triumphschrei aus. Seit Jahren hatte er versucht, mich mit diversen Männern zu verkuppeln, die meisten kannte er aus dem Fitnesscenter.
»Nicht im romantischen Sinn«, beteuerte ich hastig. »Er ist Wissenschaftler.«
»Ein fantastisch aussehender Wissenschaftler ist genau das, was du brauchst. Du brauchst eine Herausforderung – und ein Leben.«
»Du solltest dich hören. Wann bist du gestern aus dem Labor gekommen? Außerdem gibt es bereits einen fantastisch aussehenden Wissenschaftler in meinem Leben«, zog ich ihn auf.
»Lenk nicht ab.«
»Oxford ist im Grunde ein Kaff. Bestimmt laufe ich ihm noch öfter über den Weg. Und er scheint hier eine große Nummer zu sein.« Das ist nicht ganz wahr , dachte ich schuldbewusst, aber wenigstens beinahe . »Ich habe mich über seine Arbeiten schlau gemacht und kapiere sogar halbwegs, worum es geht, aber etwas muss ich dabei übersehen haben, denn irgendwie passt das alles nicht zusammen.«
»Bitte sag, dass er kein Astrophysiker ist«, sagte Chris. »Du weißt, dass ich nicht gut in Physik bin.«
»Ich dachte, du bist genial.«
»Bin ich auch«, bekräftigte er sofort. »Aber mein Genie erstreckt sich nicht auf Kartenspiele oder Physik. Den Namen, bitte.« Chris gab sich Mühe, geduldig zu bleiben, aber für ihn arbeitete kein Gehirn schnell genug.
»Matthew Clairmont.« Der Name schien in meiner Kehle festzuhängen, genau wie am Abend zuvor der Nelkenduft.
Chris pfiff durch die Zähne. »Der mysteriöse, mönchische Professor Clairmont.« Ich bekam eine Gänsehaut. »Wie hast du das angestellt, hast du ihn mit deinen unglaublichen Augen verhext?«
Da Chris nicht wusste, dass ich eine Hexe war, hatte er das Wort »verhext« rein zufällig gebraucht. »Er bewundert meine Arbeit über Boyle.«
»Na klar«, prustete Chris. »Du hast diese wahnsinnigen blau-goldenen Strahler auf ihn gerichtet, und er hat dabei an das Boyle’sche Gesetz gedacht? Er ist Wissenschaftler, Diana, kein Heiliger. Und er ist nebenbei tatsächlich eine große Nummer.«
»Wirklich?«, fragte ich schwach.
»Wirklich. Er war eine Ausnahmeerscheinung, genau wie du, und begann schon als Student zu veröffentlichen. Richtig gutes Zeug, keinen Kleinkram – Arbeiten, unter die man stolz seinen Namen setzen würde, wenn man sie im Laufe eines ganzes Lebens zustande gebracht hätte.«
Ich überflog die Notizen, die ich auf einen gelben Block gekritzelt hatte. »Das waren seine Forschungen über die Nervenmechanismen und den Frontallappen?«
»Du hast deine Hausaufgaben gemacht«, lobte er mich. »Ich habe mich nicht eingehend mit Clairmonts frühen Arbeiten beschäftigt – mich interessieren hauptsächlich seine chemischen Forschungen –, aber seine Veröffentlichungen über die Wölfe haben damals ziemliches Aufsehen erregt.«
»Wieso das?«
»Er verfügte über einen erstaunlichen Instinkt – warum die Wölfe bestimmte Lebensräume wählten, wie sie soziale Gruppen bildeten, wie sie sich paarten. Es war fast, als wäre er selbst ein Wolf.«
»Vielleicht ist er einer.«
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