Seelen der Nacht
einem Schnurren, das tief in seiner Kehle vibrierte. »Nicht jeder kann das sehen – noch nicht –, aber ich schon. Es leuchtet aus Ihnen, wenn Sie sich konzentrieren. Übrigens auch, wenn Sie wütend sind. Bestimmt werden die Dämonen in der Bibliothek das ebenfalls bald spüren, wenn es nicht schon zu spät ist.«
»Ich danke Ihnen für die Warnung. Aber ich brauche Ihre Hilfe nicht.« Ich wollte mich von ihm wegdrehen, doch seine Hand schoss vor und packte mich am Oberarm, um mich aufzuhalten.
»Seien Sie sich da nicht zu sicher. Seien Sie auf der Hut. Bitte.« Clairmont zögerte, und die perfekten Linien seines Gesichtes gerieten für einen Moment in Unordnung, bis er sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte. »Vor allem, wenn Sie diesen Hexer wiedersehen.«
Ich starrte unverwandt auf die Hand an meinem Arm. Clairmont ließ mich los. Seine Lider senkten sich und schirmten seinen Blick ab.
Langsam und mit kraftvollen Zügen ruderte ich zum Bootshaus zurück, doch die rhythmischen Bewegungen konnten mein Unbehagen
und meine Verwirrung nicht vertreiben. Immer wieder meinte ich einen grauen Schatten auf dem Fußweg neben dem Fluss zu sehen, aber das Aufregendste, was ich erkennen konnte, waren ein paar Radfahrer auf dem Heimweg und ein ganz gewöhnlicher Mensch, der seinen Hund ausführte.
Nachdem ich die Ausrüstung verstaut und das Bootshaus abgeschlossen hatte, joggte ich langsam am Fluss entlang nach Hause.
Matthew Clairmont stand am anderen Flussufer vor dem Bootshaus des Oxford University Boat Club.
Ich begann zu rennen, und als ich mich nach ihm umdrehte, war er nicht mehr zu sehen.
5
N ach dem Abendessen setzte ich mich auf das Sofa vor dem kalten Kamin im Wohnzimmer und schaltete mein Notebook ein. Warum sollte sich ein Wissenschaftler von Clairmonts Kaliber so sehr für ein alchemistisches Manuskript interessieren – selbst wenn es mit einem Zauber belegt war –, dass er sich den ganzen Tag zu einer Hexe in die Bibliothek hockte und alte Notizen über die Morphogenese studierte? Seine Visitenkarte steckte in einem Seitenfach meiner Handtasche. Ich fischte sie heraus und lehnte sie gegen den Bildschirm.
Im Internet entdeckte ich unter einem Link zu einer Theateraufführung, die nichts mit ihm zu tun hatte, sowie den unvermeidlichen Verweisen auf die verschiedenen sozialen Netzwerke eine ganze Liste von biographischen Einträgen, die mehr versprachen: die Website seiner Fakultät, ein Wikipedia-Artikel, ein paar Links zu den Mitgliedern der Royal Society.
Ich klickte die Website der Fakultät an und schnaubte. Matthew Clairmont gehörte zu jenen Fakultätsmitgliedern, die keine Informationen ins Netz stellten – nicht einmal solche akademischer Natur. Auf der Website der Yale University konnte man die Kontaktinformationen und die komplette Vita von praktisch jedem Mitglied der Fakultät einsehen. In Oxford dagegen schien man eindeutig ein anderes Verständnis von Privatsphäre zu pflegen. Kein Wunder, dass ein Vampir gern hier forschte.
Unter Clairmonts Namen gab es keinen Verweis auf das Krankenhaus, das er auf seiner Karte aufgeführt hatte. Ich tippte »John Radcliffe Neurosciences« in das Suchfeld ein und wurde von dort aus zu einem Überblick über die Angebote der Abteilung weitergeleitet. Allerdings wurde keiner der Mediziner namentlich erwähnt, es folgte lediglich
eine lange Liste der verschiedenen Forschungsgebiete. Ich klickte mich systematisch durch alle Einträge, bis ich seinen Namen schließlich auf einer Seite entdeckte, die dem Frontallappen gewidmet war, allerdings ohne dass dort mehr über ihn zu erfahren gewesen wäre.
Der Wikipedia-Artikel half mir kein Stück weiter, die Seite der Royal Society brachten genauso wenig. Alles, was auf diesen Seiten auch nur halbwegs nützliche Hintergrundinformationen versprach, lag hinter einer Mauer von Passwörtern verborgen. Auch als ich mir auszudenken versuchte, wie Clairmonts Username und sein Passwort lauten könnten, hatte ich kein Glück, und nach dem sechsten Fehlversuch wurde mir der Zugriff komplett verweigert.
Frustriert gab ich den Namen des Vampirs in eine Suchmaschine für wissenschaftliche Artikel ein.
»Ja.« Zufrieden lehnte ich mich zurück.
Matthew Clairmont mochte im Internet nicht allzu präsent sein, dafür war er in der Fachliteratur umso aktiver. Nachdem ich durch einen Mausklick die Ergebnisse nach Aktualität sortiert hatte, bekam ich einen Schnappschuss seiner intellektuellen
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