Seelen der Nacht
Biografie geliefert.
Mein aufflammendes Triumphgefühl erlosch sofort wieder. Er hatte nicht eine intellektuelle Biografie. Sondern vier.
Die erste begann mit dem Gehirn. Vieles davon ging über meinen Horizont, aber offenbar hatte sich Clairmont gleichzeitig als Wissenschaftler und Mediziner einen Namen gemacht, indem er erforscht hatte, wie der Frontallappen Bedürfnisse und Begehrlichkeiten verarbeitete. Gleich mehrfach war ihm ein wissenschaftlicher Durchbruch gelungen, indem er geklärt hatte, welchen Stellenwert diverse Nervenmechanismen für die Reaktion auf verzögerte Belohnungen haben, die sich alle im Frontallappen abspielen. Ich öffnete ein neues Browserfenster und rief ein anatomisches Diagramm auf, um nachzusehen, um welchen Teil des Gehirns es hier ging.
Es gibt die These, dass das wissenschaftliche Gesamtwerk eines Menschen im Grunde eine nur halb verschleierte Biografie ist. Mein Puls beschleunigte sich. Clairmont war ein Vampir, da hoffte ich doch
sehr, dass er sein Belohnungssystem besonders gut kontrollieren konnte.
Bei den folgenden Klicks stellte sich heraus, dass Clairmont sich bei seinen nächsten Arbeiten überraschend vom Gehirn ab- und dem Wolf zugewandt hatte – dem norwegischen Wolf, um genau zu sein. Offenbar hatte er im Laufe seiner Forschungen viele lange Nächte in Skandinavien verbracht – was für einen Vampir dank seiner niedrigen Körpertemperatur und seiner exzellenten Nachtsicht kein Problem war. Ich versuchte mir auszumalen, wie er in einem verdreckten Parka mit seinem Notizbuch im Schnee hockte – aber das Bild wollte sich nicht einstellen.
Danach folgten die ersten Verweise auf Blut.
Während der Vampir unter den norwegischen Wölfen geweilt hatte, hatte er angefangen, ihr Blut zu untersuchen, um die verschiedenen Sippen und Vererbungsmuster zu bestimmen. Clairmont hatte die norwegischen Wölfe in vier verschiedene Clans katalogisiert, von denen drei einheimischer Abstammung waren. Den vierten Clan verfolgte er zurück zu einem Wolf, der aus Schweden oder Finnland nach Norwegen eingewandert war. Es gab, so schloss er, überraschend oft Kreuzungen über verschiedene Rudel hinweg und damit einen ständigen Austausch von genetischem Material, der die Evolution der Spezies beeinflusste.
Inzwischen verfolgte er vererbte Merkmale in anderen Tierarten und auch im Menschen zurück. Viele seiner jüngsten Publikationen befassten sich mit technischen Fragen – mit Methoden zur Einfärbung von Gewebeproben oder Handreichungen zum Umgang mit besonders altem und empfindlichem DNA-Material.
Ich griff mir in die Haare und zog mit aller Kraft, in der Hoffnung, dass der Schmerz meinen Blutkreislauf wieder in Schwung bringen und die müden Synapsen befeuern würde. Das ergab keinen Sinn. Kein Wissenschaftler konnte so viele Arbeiten in so vielen verschiedenen Unterdisziplinen veröffentlichen. Sich auch nur die Fähigkeiten anzueignen, würde mehr als ein ganzes Leben erfordern – ein ganzes Menschenleben, wohlgemerkt.
Ein Vampir dagegen konnte das schaffen, aber auch nur, wenn er über Jahrzehnte hinweg an ähnlichen Problemen gearbeitet hatte. Wie viele Jahre verbarg Matthew Clairmont tatsächlich hinter seinem gut dreißigjährigen Gesicht?
Ich stand auf und machte mir frischen Tee. Mit dem dampfenden Becher in der freien Hand durchwühlte ich meine Tasche, bis ich mein Handy gefunden hatte, und tippte dann mit dem Daumen eine Nummer ein.
Einer der Vorteile an Wissenschaftlern ist, dass sie ihre Handys nie ausschalten. Und dass sie beim zweiten Läuten an den Apparat gehen.
»Christopher Roberts.«
»Chris, hier ist Diana Bishop.«
»Diana!« Chris’ Stimme war warm, und im Hintergrund dröhnte Musik. »Ich habe gehört, du wurdest schon wieder für dein Buch ausgezeichnet. Glückwunsch!«
»Danke.« Ich rutschte auf meinem Stuhl herum. »Ich hatte gar nicht damit gerechnet.«
»Ich schon. Eine fantastische Arbeit. Und wo wir gerade dabei sind, wie gehen deine Forschungen voran? Hast du die Ansprache schon fertig?«
»Längst noch nicht«, sagte ich. Damit sollte ich mich eigentlich beschäftigen, statt im Internet auf Vampirjagd zu gehen. »Hör zu, tut mir leid, dass ich dich bei der Arbeit störe. Hast du einen Augenblick Zeit?«
»Klar.« Er rief jemandem zu, die Musik leiser zu drehen. Sie blieb genauso laut. »Warte mal.« Ich hörte gedämpfte Geräusche, dann wurde es still. »So ist es schon besser«, sagte er. »Die neuen Kids sind am
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