Seelen der Nacht
Dollar darauf setzen, dass er noch zu Lebzeiten den Nobelpreis verliehen bekommt.«
Chris war ein Genie, aber er wusste nicht, dass Matthew Clairmont ein Vampir war. Es würde keinen Nobelpreis geben – das würde der Vampir vermeiden, um seine Anonymität zu wahren. Nobelpreisträger werden zu oft fotografiert.
»Die Wette gilt«, lachte ich.
»Du solltest schon mal anfangen zu sparen, Diana, denn diesmal wirst du verlieren.« Chris lachte ebenfalls.
Die letzte Wette hatte er verloren. Damals hatte ich fünfzig Dollar darauf gewettet, dass er vor mir eine Festanstellung angeboten bekommen würde. Der Schein steckte im selben Rahmen wie das Foto, das an jenem Morgen aufgenommen worden war, an dem die MacArthur Foundation angerufen hatte. Auf dem Bild fuhr sich Chris mit den Händen durch die dichten schwarzen Locken, und ein belämmertes Lächeln lag auf seinem dunklen Gesicht. Neun Monate später hatte er die Stelle.
»Danke, Chris. Du warst mir eine große Hilfe«, erklärte ich. »Und jetzt schau lieber nach deinen Kids. Wahrscheinlich haben sie inzwischen irgendwas in die Luft gejagt.«
»Immerhin ist der Feueralarm noch nicht losgegangen, was ich als gutes Zeichen werte.« Er zögerte. »Und jetzt raus mit der Sprache,
Diana. Du rufst nicht an, weil du Angst hast, dass du was Falsches sagen könntest, wenn du Matthew Clairmont bei einer Cocktailparty begegnest. So wie jetzt benimmst du dich nur, wenn du bei deinen Forschungen vor einem Problem stehst. Was an ihm hat deine Fantasie zum Leben erweckt?«
Manchmal schien Chris zu ahnen, dass ich anders war. Aber ich konnte ihm unmöglich die Wahrheit verraten.
»Ich habe eine Schwäche für kluge Männer.«
Er seufzte. »Na schön, behalte es für dich. Du bist eine miserable Lügnerin, weißt du das? Aber nimm dich in Acht. Wenn er dir das Herz bricht, muss ich ihm hinterher in den Arsch treten, und ich stecke dieses Semester bis zum Hals in Arbeit.«
»Matthew Clairmont wird mir bestimmt nicht das Herz brechen«, beteuerte ich. »Er ist ein Kollege – mit einem breiten Interessengebiet, sonst nichts.«
»Dafür, dass du so schlau bist, bist du wirklich unglaublich ahnungslos. Ich wette zehn Dollar, dass er dich noch in dieser Woche auf ein Glas einlädt.«
Ich lachte. »Wirst du denn nie klug? Also gut, zehn Dollar – oder den Gegenwert in britischen Pfund –, wenn ich gewinne.«
Wir verabschiedeten uns. Ich wusste immer noch nicht allzu viel über Matthew Clairmont – aber zumindest hatte ich jetzt eine Ahnung, welche Fragen offen geblieben waren. Vor allem fragte ich mich, warum jemand, der an einem Durchbruch in der Evolutionstheorie arbeitete, sich mit der Alchemie des siebzehnten Jahrhunderts beschäftigen sollte.
Ich surfte durchs Internet, bis mir die Augen brannten. Als die Uhren Mitternacht schlugen, hatte ich Berge von Notizen über Wölfe und Genetik verfasst und immer noch keinen Schimmer, was Matthew Clairmont an Ashmole 782 interessierte.
6
D er nächste Morgen war grau und ein typischer Frühherbstmorgen. Ein einziger Blick auf das trostlose Wetter vor meinem Fenster überzeugte mich, dass ich heute nicht zum Fluss zu gehen brauchte. Stattdessen joggte ich eine Runde und winkte im Vorbeilaufen dem Nachtpförtner in seiner Loge zu, der mich erst fassungslos ansah und dann den Daumen hob.
Jedes Mal, wenn meine Füße auf den Bürgersteig trafen, entspannten sich meine Muskeln ein bisschen mehr. Bis ich die Kieswege im University Park erreicht hatte, atmete ich bereits tief und regelmäßig, ich fühlte mich gelöst und gewappnet für einen langen Tag in der Bibliothek – ganz gleich, welche Wesen dort versammelt sein mochten.
Als ich zurückkam, hielt mich der Pförtner auf. »Dr. Bishop?«
»Ja?«
»Es tut mir leid, dass ich Ihren Besuch gestern Abend wegschicken musste, aber ich habe mich an die Vorschriften zu halten. Bitte sagen Sie uns Bescheid, wenn Sie das nächste Mal jemanden erwarten, dann schicken wir die Leute gleich hoch.«
Die Unbeschwertheit, die ich mir so mühsam erlaufen hatte, verpuffte.
»War das ein Mann oder eine Frau?«, fragte ich scharf.
»Eine Frau.«
Meine brettharten Schultern senkten sich langsam.
»Sie war schrecklich nett, und ich mag die Australier. Sie sind immer freundlich und dabei nicht so, Sie wissen schon…« Der Pförtner verstummte, doch es war klar, was er sagen wollte. Australier waren wie Amerikaner – aber nicht so aufdringlich. »Wir haben noch in Ihrem
Weitere Kostenlose Bücher