Seelen der Nacht
es auch nicht so überraschend«, beharrte Matthew, schöpfte etwas Suppe auf seinen Löffel und schwenkte ihn langsam hin und her, um ihn noch weiter abzukühlen. »Diana kann auf eine mehrere Jahrhunderte alte Familiengeschichte zurückblicken. Das ist nicht mit dem zu vergleichen, was du als Teenager durchmachen musstest.«
»Ich hatte eine Höllenzeit«, bestätigte Hamish und ließ einige der dämonischen Jugendgeschichten, die er im Lauf der Jahre durchlebt hatte, an seinem inneren Auge vorbeiziehen.
Als Hamish zwölf Jahre alt war, war sein ganzes Leben an einem einzigen Nachmittag auf den Kopf gestellt worden. Im Lauf des langen schottischen Herbstes war ihm klar geworden, dass er wesentlich klüger war als alle seine Lehrer. Natürlich hegen die meisten Zwölfjährigen diesen Verdacht, aber Hamish war sich dieser Tatsache mit absoluter, beunruhigender Klarheit bewusst. Zuerst stellte er sich krank, um nicht zur Schule gehen zu müssen; als das nicht mehr funktionierte, gab er es auf, normal erscheinen zu wollen, und erledigte alle seine Aufgaben in rasender Geschwindigkeit. In seiner Not ließ der Schulrektor jemanden aus der mathematischen Fakultät der Universität kommen, der Hamishs verstörende Begabung untersuchen sollte, in wenigen Minuten Aufgaben zu lösen, die seine Schulkameraden über eine Woche beschäftigt hielten.
Jack Watson von der Universität Glasgow, ein junger Dämon mit roten Haaren und klugen blauen Augen, brauchte nur einen Blick auf den elfengleichen Hamish Osborne zu werfen, um zu vermuten, dass auch dieser ein Dämon war. Nachdem er Hamish zum Schein einer förmlichen Prüfung unterzogen hatte, bei der wie erwartet herauskam, dass Hamish ein mathematisches Wunderkind war, dessen Geist alle normalen Parameter sprengte, lud Watson ihn ein, die Vorlesungen an der Universität zu besuchen. Außerdem erklärte er dem Rektor, dass das Kind nicht in einer normalen Klasse unterrichtet werden könne, ohne sich zum Brandstifter oder in eine ähnlich destruktive Richtung zu entwickeln.
Anschließend besuchte Watson das bescheidene Heim der Osbornes und eröffnete der fassungslosen Familie, wie die Welt in Wahrheit aufgebaut war und welche Geschöpfe sie bevölkerten. Percy Osborne, der einer Familie von glaubensfesten Presbyterianern entstammte, verwahrte sich zunächst gegen die Vorstellung, dass es verschiedene übernatürliche oder übermenschliche Geschöpfe geben sollte, bis seine Frau ihn darauf hinwies, dass er im Glauben an Hexen großgezogen worden war – warum sollte es da nicht auch Vampire und Dämonen geben? Hamish weinte vor Erleichterung, weil er sich endlich nicht mehr so allein fühlte. Seine Mutter drückte ihn an ihre Brust und
erklärte ihm, sie habe schon immer gewusst, dass er etwas Besonderes sei.
Während Watson noch vor dem elektrischen Kamin saß und mit ihrem Mann und ihrem Sohn Tee trank, nutzte Jessica Osborne die Gelegenheit, um einige weitere Aspekte in Hamishs Leben anzusprechen, die ihm möglicherweise das Gefühl gaben, anders als andere Kinder zu sein. Bei ein paar Schokoladenkeksen informierte sie ihren Sohn darüber, dass sie wisse, wie unwahrscheinlich eine Hochzeit mit dem Mädchen von nebenan sei, das so in ihn verschossen war. Jessica Osborne hatte gesehen, wie Hamish den älteren Bruder des Mädchens anhimmelte, einem strammen Kerl von fünfzehn Jahren, der besser Fußball spielen konnte als jeder andere im Viertel. Weder Percy noch Jack hatten irgendwie überrascht oder erschrocken auf diese Offenbarung reagiert.
»Trotzdem«, erklärte Matthew jetzt nach dem ersten Löffel lauwarmer Suppe, »muss Dianas Familie fest damit gerechnet haben, dass sie eine Hexe wird – und sie ist eine geworden, ob sie ihre Magie nun einsetzt oder nicht.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass das genauso schlimm ist, wie in einer Familie von ahnungslosen Menschen aufzuwachsen. Kannst du dir diesen Druck ausmalen? Ganz zu schweigen von dem grässlichen Gefühl, dass dein Leben nicht dir selbst gehört?« Hamish schauderte. »Da ist mir blinde Ignoranz doch lieber.«
»Wie hast du dich eigentlich gefühlt«, fragte Matthew zögerlich, »als du das erste Mal in dem Wissen aufgewacht bist, ein Dämon zu sein?« Normalerweise stellte der Vampir keine so persönlichen Fragen.
»Als wäre ich wiedergeboren worden«, sagte Hamish. »Ich war genauso überwältigt und konfus wie du, als du zum ersten Mal aufgewacht bist und dich nach Blut verzehrt hast, während
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