Seelen der Nacht
Die Grafiken darunter beschränkten sich auf schwarze und graue Balken, die über weißes Papier marschierten.
»Das ist gemein«, protestierte Marcus. »Kein Historiker könnte die lesen.«
»Das hier sind DNA-Sequenzen.« Ich tippte auf die schwarzweißen Bilder. »Aber was sollen die kolorierten Grafiken darstellen?«
Matthew stützte neben mir die Ellbogen auf den Tisch. »Das sind ebenfalls Ergebnisse aus Gentests«, sagte er und zog dabei die Seite mit den reifenförmigen Diagrammen heran. »Hier haben wir eine Darstellung
der mitochondrialen DNA einer Frau namens Benvenguda, die diese DNA von ihrer Mutter und der Mutter ihrer Mutter und allen ihren weiblichen Vorfahren geerbt hat. Sie beschreibt ihr matrilineares Erbe.«
»Was ist mit dem genetischen Erbe ihres Vaters?«
Matthew tippte auf die schwarzweißen DNA-Ergebnisse. »Benvengudas menschlicher Vater findet sich hier wieder, in ihrer Zellkern-DNA – ihrem Genom –, und zwar gemeinsam mit ihrer Mutter, einer Hexe.« Er beugte sich wieder über die kolorierten Reifen. »In der mitochondrialen DNA außerhalb des Zellkerns hingegen wird allein die mütterliche Linie gespeichert.«
»Warum untersucht ihr gleichzeitig ihr Genom und ihre mitochondriale DNA?« Vom Genom hatte ich schon gehört, aber dass es eine mitochondriale DNA gab, war mir neu.
»Die DNA im Zellkern beschreibt dich als einzigartiges Individuum – sie zeigt, wie sich das genetische Erbe deiner Mutter und deines Vaters neu kombiniert hat, um dich zu erschaffen. Weil bei deiner Zeugung die Gene deines Vaters mit denen deiner Mutter vermischt wurden, hast du blaue Augen, blonde Haare und Sommersprossen bekommen. Die mitochondriale DNA kann uns helfen, die Geschichte der ganzen Spezies zu verstehen.«
»Das würde bedeuten, dass in jedem Einzelnen von uns der Ursprung und die Evolution der gesamten Art gespeichert ist«, folgerte ich langsam. »Sie steckt in unserem Blut und in jeder Zelle unseres Körpers.«
Matthew nickte. »Aber in jeder Geschichte vom Ursprung steckt eine zweite Geschichte – die nicht den Anfang, sondern das Ende beschreibt.«
»Womit wir wieder bei Darwin wären«, sagte ich stirnrunzelnd. »Vom Ursprung der Arten handelte nicht nur davon, wie sich die verschiedenen Arten entwickelt hatten. Es ging auch um die natürliche Auslese und das Aussterben einer Art.«
»Man könnte auch sagen, dass es im Ursprung vor allem ums Aussterben ging«, pflichtete Marcus mir bei und rollte dabei mit seinem Hocker auf die andere Seite des Labortisches.
Ich betrachtete Benvengudas grellbunte Reifen. »Wer war sie?«
»Eine ungeheuer mächtige Hexe«, sagte Miriam. »Sie lebte im siebten Jahrhundert in der Bretagne. Sie war ein Mysterium in einem Zeitalter, das viele Mysterien hervorgebracht hat. Beatrice Good gehört zu ihren letzten direkten Nachfahren.«
»Stammt Beatrice Goods Familie aus Salem?«, flüsterte ich und berührte dabei ihre Akte. Neben den Bishops und Proctors hatten auch die Goods dort gelebt.
»Unter Beatrices Vorfahren finden sich auch Sarah und Dorothy Good aus Salem«, bestätigte Matthew meine Vermutung. Er klappte Beatrices Akte auf und legte die Resultate ihres mitochondrialen Gentests neben die von Benvenguda.
»Aber sie unterscheiden sich«, sagte ich. So viel konnte man an den Farben und ihrer Anordnung erkennen.
»Nur wenig«, korrigierte mich Matthew. »Beatrices Zellkern-DNA weist weniger hexentypische Marker auf. Das deutet darauf hin, dass sich ihre Vorfahren im Verlauf der Jahrhunderte immer weniger auf Magie und Hexenkünste verließen, um zu überleben. Diese veränderten Bedürfnisse lösten ihrerseits Mutationen in der DNA aus – Mutationen, mit denen die Magie verdrängt wurde.« Seine Botschaft klang nach einer rein wissenschaftlichen Erklärung, aber sie war an mich gerichtet.
»Beatrices Vorfahren verdrängten zunehmend ihre Magie, und das wird letztendlich ihre Familie zerstören?«
»Es ist nicht ausschließlich Schuld der Hexen. Die Natur trägt auch ihren Teil dazu bei.« Matthews Blick wirkte traurig. »So wie es aussieht, stehen die Hexen, genau wie die Vampire, unter zunehmendem Druck, in einer Welt zu überleben, die immer stärker von Menschen beherrscht wird. Die Dämonen auch. Sie neigen weniger zur Genialität – wodurch wir sie früher von der menschlichen Bevölkerung unterschieden – und umso mehr zum Wahnsinn.«
»Und die Menschen sterben nicht aus?«, fragte ich.
»Ja und nein«,
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