Seelen der Nacht
sagte Matthew. »Wir glauben, dass die Menschen sich – bis jetzt – besser angepasst haben. Ihr Immunsystem reagiert
schneller, und sie haben einen stärkeren Fortpflanzungstrieb als Hexen oder Vampire. Früher war die Welt fast zu gleichen Teilen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Kreaturen aufgeteilt. Inzwischen sind die Menschen in der Mehrheit, und wir stellen nur noch zehn Prozent der Weltbevölkerung.«
»Als es so viele nichtmenschliche Kreaturen wie Menschen gab, sah die Welt ganz anders aus.« Miriam klang, als würde sie es bedauern, dass sich die Waagschale zu unseren Ungunsten gesenkt hatte. »Aber irgendwann werden die Menschen an ihrem empfindlichen Immunsystem zugrunde gehen.«
»Wie deutlich unterscheiden wir – die übrigen Kreaturen – uns von den Menschen?«
»Beträchtlich, zumindest auf genetischer Ebene. Wir sehen ihnen ähnlich, aber unter der Oberfläche liegt eine völlig andere Chromosomenzusammensetzung.« Matthew skizzierte ein Diagramm auf den Umschlag von Beatrice Goods Akte. »Menschen haben dreiundzwanzig Chromosomenpaare in jedem Zellkern, die jeweils in langen Codesequenzen angeordnet sind. Vampire und Hexen haben vierundzwanzig Chromosomenpaare.«
»Mehr als Menschen, Burgundertrauben oder Schweine.« Marcus zwinkerte.
»Was ist mit den Dämonen?«
»Die haben genauso viele Chromosomenpaare wie die Menschen – allerdings mit einem einzelnen zusätzlichen Chromosom. Soweit wir erkennen können, macht genau dieses Chromosom sie so dämonisch«, erwiderte Matthew, »und so anfällig.«
Während ich seine Bleistiftskizze studierte, fiel mir eine Haarsträhne ins Auge. Ungeduldig schob ich sie beiseite. »Was liegt auf dem zusätzlichen Chromosomenpaar?« Matthew zu folgen fiel mir genauso schwer wie früher der Biologieunterricht auf dem College.
»Genetisches Material, das uns von den Menschen unterscheidet«, sagte Matthew, »außerdem Material, das die Zellfunktionen reguliert, dazu das, was die Wissenschaftler als ›Junk-DNA‹ bezeichnen.«
»Nur handelt es sich dabei nicht um Abfall«, sagte Marcus. »Das
ganze genetische Material ist offenbar aus vergangenen Ausleseprozessen übrig geblieben, oder es wartet nur darauf, beim nächsten Evolutionsschub zum Einsatz zu kommen. Wir wissen einfach nicht, welchen Zweck es erfüllt – noch nicht.«
»Einen Moment«, warf ich ein. »Hexen und Dämonen werden geboren. Ich wurde mit einem zusätzlichen Chromosomenpaar geboren, und dein Freund Hamish wurde mit einem zusätzlichen einzelnen Chromosom geboren. Aber Vampire werden nicht geboren – ihr werdet gemacht, aus menschlicher DNA. Wo nehmt ihr euer zusätzliches Chromosomenpaar her?«
»Wenn ein Mensch als Vampir wiedergeboren wird, entzieht ihm sein Schöpfer zuerst das ganze Blut, woraufhin sämtliche Organe ausfallen. Bevor der Mensch stirbt, gibt ihm der Vampir allerdings sein oder ihr Blut und gebiert ihn dadurch neu«, erläuterte Matthew. »Soweit wir erkennen können, löst das zugeführte Vampirblut spontane genetische Mutationen in jeder einzelnen Zelle aus.«
Matthew hatte auch gestern von »wiedergeboren« gesprochen, aber das Wort Schöpfer hatte ich im Zusammenhang mit Vampiren noch nie gehört.
»Das Blut des Schöpfers durchdringt den Körper des Wiedergeborenen und transportiert dabei neue genetische Informationen«, fuhr Miriam fort. »Etwas Ähnliches passiert, wenn ein Mensch eine Bluttransfusion bekommt. Allerdings löst das Vampirblut unzählige Veränderungen in der DNA aus.«
»Wir haben angefangen, im Genom nach Hinweisen auf eine so explosive Umwälzung zu suchen«, erklärte Matthew. »Und wir haben sie gefunden – Mutationen, die beweisen, dass alle Vampire eine spontane Anpassung durchlaufen müssen, sobald sie das Blut ihrer Schöpfer absorbieren. Dabei entwickeln sie auch ein zusätzliches Chromosomenpaar.«
»Quasi ein genetischer Urknall. Ihr seid wie eine Galaxie, die aus einem sterbenden Stern geboren wird. Innerhalb weniger Augenblicke transformieren euch die Gene in ein anderes Wesen – ein nichtmenschliches Geschöpf.« Ich sah Matthew staunend an.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Wir können eine Pause machen.«
»Könnte ich etwas Wasser bekommen?«
»Ich hole welches.« Marcus sprang von seinem Hocker auf. »Im Kühlschrank bei den Proben steht welches.«
»Die Menschen haben uns den ersten Hinweis darauf geliefert, dass Zellen durch Bakterien oder eine andere Art von
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