Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Aldís hatte sofort gewusst, dass etwas Schlimmes passiert war. Liljas Schreie waren keine Schmerzensschreie gewesen, und außerdem wickelte man ein Neugeborenes nicht so in ein Laken, wie Veigar es getan hatte. Das Baby war nicht zu sehen, es war ganz still und gab keinen Laut von sich.
Aldís setzte sich auf. Hinterher hatte man sie angewiesen, das Zimmer und das Bett sauberzumachen, und der eisenähnliche Geruch des Bluts steckte ihr immer noch in der Nase. Der Geruch allein hätte ihr nicht derart zu schaffen gemacht, wahrscheinlich hätte sie an den darauffolgenden Tagen bei der Erinnerung daran nur ein bisschen gewürgt und die Sache dann vergessen. Aber Veigar war ausgerutscht, als er sich mit schwankenden Schritten vom Haus entfernt hatte, und das Laken war vom Kopf des Babys gerutscht. Aldís atmete scharf aus und rieb sich die Augen. Wenn sie doch nur den entstellten, gräulichen Kopf nicht gesehen hätte. Erst hatte sie gedacht, es handele sich um eine Puppe, auf die jemand so lange eingeschlagen hatte, bis der obere Teil des Kopfes eingedellt war. Doch dann merkte sie, dass es ein Kind war, überzogen mit einer weißen Schmiere, und obwohl der Kopf unmittelbar oberhalb der Augen endete, sah sie keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Feine schwarze Härchen klebten an der Haut, der Kopf schien von Natur aus zusammengestaucht zu sein. Die Augen waren geschlossen, öffneten sich jedoch, als Aldís das Wesen erstaunt anstarrte, und schienen zurückzuschauen. Schwarz und eindringlich wie die Augen der Heimjungen. Entweder hatte sie sich verguckt, oder die Augen waren aufgegangen, als Veigar ausgerutscht war. Beide Theorien kamen ihr unwahrscheinlich vor, aber sie waren immer noch realistischer als die dritte Möglichkeit: dass das Kind gar nicht tot geboren worden war.
Aldís nahm ihr Kissen und legte es sich über den Kopf. Sie vergrub sich in der Matratze und murmelte ein Lied vor sich hin, das ihre Mutter immer beim Stricken gesummt hatte. Auch wenn Aldís ebenso ungern an ihre Mutter dachte, war der Gedanke an sie erträglicher als der an ein missgestaltetes totes Kind. Er verursachte lediglich bittere Wut, aber keine Beklemmungen.
Als sie endlich kurz vorm Einschlafen war, wurde sie von einem undefinierbaren Rascheln vor dem Fenster gestört. Es war nicht das Geräusch an sich, das sie aufhorchen ließ, sondern die Vorstellung, dass da draußen jemand war. War das Fenster offen oder geschlossen? In der Dunkelheit konnte man nicht sehen, ob sich der Vorhang bewegte. Das war zwar gut, sagte aber auch nicht so viel aus, denn der Abend war ruhig und windstill gewesen.
Aldís lauschte auf ihre eigenen Atemzüge und wurde wieder von hässlichen Gedanken bedrängt. Niemand wusste, was Veigar mit dem Kind gemacht hatte. An den Tagen nach der Geburt hatte er den Hof nicht verlassen, und niemand hatte bemerkt, dass ein Pfarrer oder sonst jemand das Kind geholt hätte, um es zu beerdigen. Hákon behauptete, Lilja und Veigar seien zu gläubig, um ein ungetauftes Kind in geweihter Erde begraben zu lassen. Er hielt es für wahrscheinlich, dass sie das Kind nach dieser fürchterlichen Nacht irgendwo in der Umgebung des Hofs vergraben oder einfach auf den Müll geworfen hatten. Aldís weigerte sich zu glauben, dass man so kaltblütig sein konnte, die Leiche eines Kindes wie Müll zu behandeln, und hielt an den darauffolgenden Tagen in der Nähe Ausschau nach einem kleinen Grab. Am Ende war sie sich sicher, dass das Kind nicht an einem leicht erkennbaren Ort vergraben worden war, denn es gab keine Stelle, die so aussah, als sei sie umgegraben worden. Aldís hatte keine Ahnung, was mit dem armen Kind passiert war.
Wieder raschelte es leise, und Aldís zog sich das Kissen über die Ohren. Sie konnte sich unmöglich erinnern, ob sie das Fenster zugemacht hatte. Auch wenn keine zehn Pferde sie dazu gebracht hätten, aufzustehen und nachzusehen, war sie sich einer Sache sicher – sie würde es nie wieder offen lassen.
3. Kapitel
Óðinn hätte im Nachhinein vieles in seinem Leben anders gemacht, Entscheidungen zurückgenommen, die ihm seinerzeit belanglos vorgekommen waren, aber fatale Folgen gehabt hatten. Zum Beispiel die fixe Idee, damals noch in der Stadt zu bleiben, anstatt sich mit seinen Kumpels auf den Nachhauseweg zu machen, als die Party ohnehin längst vorbei gewesen war. Wobei ihm das nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal passiert war, aber meistens spielte es keine große Rolle, er wachte vielleicht
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