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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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sehr bedrohlich klang, fing sein Herz wie wild an zu rasen. In seinem Kopf liefen Geschichten von Junkies und Säufern ab, die nachts Taxifahrer überfielen, und obwohl das völlig abwegig war, dachte Óðinn, dass sich ein Verbrecher im Wagen versteckt habe und auf ihn losgehen wolle. Die Einkaufstüte, die er vor dem Supermarkt nach hinten geworfen hatte, raschelte. Vielleicht war jemand auf dem Parkplatz vor dem Laden ins Auto geschlüpft. Was eigentlich ausgeschlossen war, denn der Wagen war definitiv leer gewesen, als er die Tüte reingelegt hatte. Am liebsten wäre er ausgestiegen, zwang sich aber dazu, sich ganz kurz umzudrehen. Als er sah, dass der Rücksitz genauso leer war wie vorher, atmete er erleichtert auf. Die Tüte musste einfach umgekippt sein. Er seufzte und war froh, dass niemand diese alberne Aktion mitgekriegt hatte.
    Wahrscheinlich machte ihm sein schlechtes Gewissen zu schaffen, weil er so viel an Lára dachte. Er hätte es zwar nie zugegeben, aber für einen Moment war es gewesen, als säße ihr zerschmetterter Körper hinter ihm und mache sich über seine Selbstvorwürfe lustig. Was für ein Schwachsinn. Nichtsdestotrotz schaltete er das Radio ein, um weitere Geräusche von der Rückbank zu übertönen.
    Ein paar Minuten später sah er seine kleine Tochter aus der Sporthalle kommen und schaltete das Radio wieder aus. Er fand ihren Namen Rún, der »Rune« oder »Geheimnis« bedeutete, inzwischen eher kindisch, aber Lára und er waren ja auch noch jung gewesen, als sie Bücher gewälzt hatten, um den perfekten, einzigartigen Namen für ihr Kind zu finden. Rún war jetzt elf Jahre alt und tatsächlich anders als die meisten Gleichaltrigen. Sie ging mit hängendem Kopf ganz alleine über den Parkplatz, während alle anderen Mädchen ihn kurz zuvor kichernd und giggelnd in Grüppchen überquert hatten. Aber das musste nicht bedeuten, dass etwas vorgefallen war – Rún war von Natur aus menschenscheu und introvertiert. Als sie den Wagen entdeckte, lächelte sie, winkte und beschleunigte ihren Schritt.
    Angesichts seiner Leistung als Vater war es unglaublich, wie sehr sie ihn stets bewundert und angehimmelt hatte. Nach jedem Papa-Wochenende hatte sie ihn gefragt, warum sie nicht bei ihm wohnen dürfe, und er war so dreist gewesen, zu antworten, ihre Mutter sei dagegen. Dafür schämte er sich zwar nicht am meisten, aber es tat weh, daran zu denken. Andererseits war eine Notlüge immer noch besser, als ihr zu sagen, dass er es sich nicht zutraue oder einfach keine Lust habe, sie zu sich zu nehmen. Doch jetzt hatte er keine Wahl mehr. Sie mussten zusammenleben, bis Rún von zu Hause ausziehen würde.
    »Hi, Süße«, sagte Óðinn und drückte ihre schmalen Schultern. Ihre glänzende, orangene Jacke knisterte. »Wie war’s?«
    »Ganz okay.« Rún lächelte dumpf und mit geschlossenem Mund. »Aber ich will mit dem Handball aufhören.«
    Óðinn riss sich zusammen. Seit ein paar Monaten diskutierten sie dreimal in der Woche über das Thema – nach jedem Training. Er blieb hart, denn sie hatte versprochen, den Winter über zu trainieren, und das sollte sie auch durchziehen. Sie hatte in der neuen Schule noch keine Freunde gefunden, und er hoffte, dass sie durch das Handballtraining aufgeschlossener würde. Dabei hatte er keine Ahnung, wie kleine Mädchen Freundschaften schlossen. Als er in Rúns Alter gewesen war, hatten Mädchen für ihn nicht existiert – sie waren zwar mit ihm in einer Klasse gewesen, aber mehr konnten seine Freunde und er nicht über sie sagen. Er wusste nur noch, dass die Handballmädchen in seiner Klasse immer eng zusammengehalten hatten.
    »Das wird schon noch, wart’s ab. Bald wirst du bestimmt sauer auf mich sein, wenn du das Training mal verpasst«, sagte er und drückte sie fester, um sie ein bisschen zu ermutigen. »Denk an unsere Abmachung. Wenn du durchhältst, unternehmen wir nächsten Sommer was Schönes.«
    Rún knabberte an ihrer Oberlippe und starrte aus dem Wagenfenster. In ihren Augen lag ein Schmerz, den Óðinn nicht ertragen konnte. Er machte sich Vorwürfe, keinen Fachmann hinzugezogen zu haben, damit sie den Verlust ihrer Mutter besser verarbeiten konnte, wie sein Hausarzt ihm geraten hatte. Stattdessen hatte er sich auf seinen gesunden Menschenverstand verlassen, der anscheinend nicht besonders gut funktionierte. Da drehte sich Rún auf einmal zu ihm und wirkte gar nicht mehr traurig.
    »Lass uns nach Hause fahren, ich hab Hunger«, sagte sie, anstatt

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