Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
über die Abmachung zu reden, und Óðinn ging auch nicht weiter darauf ein. Wozu auch? Sie würde wieder zum Training gehen, das wussten sie beide.
Auf dem Nachhauseweg sprachen sie wenig, was nicht ungewöhnlich war. Sie waren beide nicht besonders redselig. Diesbezüglich waren sie sich ähnlich, aber äußerlich waren sie ganz unterschiedlich. Rún war sehr klein und zierlich, er kräftig und groß, sie hatte dunkle Haare und dunkle Augen und eine besonders helle Haut, die nie Farbe annahm, während er blond und blauäugig war und sofort braun wurde, wenn er seine Nase in die Sonne hielt. Absolute Gegensätze.
Óðinn fuhr auf direktem Weg zu ihrem Wohnblock. Sein Bruder Baldur, der das Haus gebaut hatte, wollte, dass man es Mehrfamilienhaus nannte, aber das trug auch nicht dazu bei, dass sich die Wohnungen besser verkauften. Bis auf die alte Frau im Erdgeschoss und Óðinn und seine Tochter im zweiten Stock stand das Haus leer. Baldur hatte Óðinn die Wohnung zu einem Spottpreis verkauft, als Rún überraschend zu ihm ziehen und er seine Junggesellenwohnung im Hlídar-Viertel aufgeben musste. Zur selben Zeit hatte er auch beschlossen, den stressigen Job bei seinem Bruder dranzugeben und sich etwas Neues zu suchen. Neue Wohnung, neue Arbeit, neues Leben.
Óðinn fuhr lächelnd in die Einfahrt. Der Vorteil an der neuen Wohnung war, dass es dort immer genug Parkplätze gab. Meistens parkte er draußen, weil es so unheimlich war, den Wagen in das leere Parkhaus zu fahren. Die alte Frau hatte kein Auto, und das Parkhaus erinnerte an einen Weltuntergangsfilm, in dem Rún und er die einzigen Überlebenden waren. Doch das, was ihn wirklich von dem Parkhaus fernhielt, verdrängte er lieber: das vage Gefühl, dass ihnen jemand auflauerte, sich hinter den breiten, grauen Säulen versteckte. Was natürlich Unsinn war.
Sie stiegen über die vielen Werbesendungen, die im Eingangsbereich lagen, und gingen in den zweiten Stock. Aus der Wohnung der alten Frau drangen Radiogeräusche, ansonsten war alles still. Der Aufzug war noch nicht in Betrieb genommen worden, aber Óðinn und Rún benutzten sowieso die Treppe, zumal die Einkaufstüte leicht war – nur Fladenbrot, Butter und Käse als Verpflegung für Rúns morgigen Schultag. Óðinn hatte sich immer noch nicht angewöhnt, planvoll einzukaufen, was ständige kleine Einkaufstouren nach sich zog, weil er irgendetwas vergessen hatte. Das würde sich mit der Zeit schon einspielen, wie so vieles andere, was er noch verbessern wollte. Óðinn zögerte, bevor er den Schlüssel ins Türschloss steckte, und Rún schaute ihn verwundert an.
»Warum schließt du nicht auf?«, fragte sie und stellte ihre Sporttasche ab, als rechne sie damit, eine Weile warten zu müssen.
»Ich weiß nicht.« Óðinn lächelte verlegen. »Einfach nur so aus Quatsch.«
Quatsch war das richtige Wort. Er hatte eine plötzliche Eingebung gehabt, nicht aufzuschließen. Vielleicht waren seine Nerven noch angespannt von der Wahnvorstellung vorhin im Auto. Und doch wusste er, dass sich etwas verändert hatte. Nicht unbedingt im Haus, aber etwas war anders und würde seine Vorstellung dessen, was er bisher als sicher angesehen hatte, auf den Kopf stellen. Vor gut einem Jahr hätte er noch darüber gelacht, aber jetzt wusste er es besser. An dem Tag, als Lára gestorben war, hatte er genau dieselbe Eingebung gehabt; damals hatte er verkatert im Bett gelegen, und auf dem Display seines Handys hatte eine unbekannte Nummer geblinkt. Und er hatte nicht rangehen wollen.
Geh nicht ran, dein Leben wird nie mehr dasselbe sein. Geh nicht ran!
Dieselbe Eingebung, die ihn auch jetzt behelligte, hatte damals dazu geführt, dass er nicht ans Telefon gegangen war. Erst, als dreimal von derselben Nummer aus angerufen wurde, hatte er nachgegeben. Tschüs, Wochenendpapa. Jetzt war die Botschaft nicht ganz so deutlich, und eigentlich war es egal, ob er die Tür aufschloss oder nicht.
Wahrscheinlich ging es gar nicht darum, was ihn in der Wohnung erwartete, zumindest echote nicht wie damals in seinem Kopf: »Mach nicht auf!« Das Ganze musste daher rühren, dass er sich im Auto vor der knisternden Tüte erschreckt hatte. Óðinn schüttelte das ungute Gefühl ab und lächelte Rún zu. Natürlich war das Quatsch, wie er ihr gesagt hatte. Und im Nachhinein betrachtet, war seine Eingebung bei dem Anruf damals falsch gewesen. Auch wenn sein Leben mit Rún eindeutig komplizierter und manchmal unglaublich einschränkend war,
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