Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
Vom Netzwerk:
wollte er nicht zu seinem alten Leben zurück. Er hatte die Chance bekommen, etwas wiedergutzumachen, und dafür war er dankbar. Endlich drehte er den Schlüssel im Schloss.
    Ein kühler Luftzug kam ihnen entgegen, und Rún verzog das Gesicht. Erst verstand Óðinn ihre Reaktion nicht, aber dann wurde es ihm klar.
    »Wer hat das Fenster aufgemacht?«, fragte sie mit dünner Stimme und angstvollem Gesicht.
    Bei ihnen herrschte das ungeschriebene Gesetz, die Fenster nur zu öffnen, wenn es einen triftigen Grund dafür gab. Óðinn öffnete das Kinderzimmerfenster einen Spalt, wenn er sich sicher war, dass Rún eingeschlafen war, schloss es aber wieder, bevor er sie weckte. Man brauchte keinen Psychologen, um das zu verstehen: Ihre Mutter war aus dem Fenster gestürzt. Die Dachgeschosswohnung, die Óðinn Lára überlassen hatte, kostete sie am Ende das Leben. Für Rún waren offene Fenster Todesfallen, und Óðinn hatte noch nicht einmal versucht, ihr den Unterschied zwischen schmalen Flügelfenstern und einem großen Mansardenfenster wie dem, aus dem ihre Mutter gestürzt war, zu erklären. Das konnte er später immer noch tun. Er versuchte auch nicht, ihr zu erklären, dass ihre Mutter nicht durch die Einwirkung unkontrollierbarer Kräfte zum Fenster gezogen worden und herausgefallen war. Sie hatte wie gewohnt auf der Fensterbank gesessen und geraucht, halb draußen und halb drinnen. In der Dachrinne des steilen Dachs hatte man einen kleinen Blumentopf und einen Besen gefunden, und man nahm an, dass Lára versucht hatte, den Blumentopf, der in die Dachrinne gefallen war, mit dem Besen herauszufischen und dabei das Gleichgewicht verloren hatte.
    »Ich muss vergessen haben, das Fenster in meinem Zimmer zuzumachen, Schatz. Mir war letzte Nacht so warm, da habe ich es einen winzigen Spalt geöffnet. Da hätte noch nicht mal eine Fliege durchgepasst«, versuchte Óðinn die Sache herunterzuspielen, damit Rún nicht merkte, dass das nicht stimmen konnte. Er wusste genau, dass er sein Fenster zugemacht hatte, aber vielleicht verwechselte er auch die Tage. Der schale Geruch von Zigarettenrauch machte die Sache nicht besser. Er rauchte nicht und Rún mit Sicherheit auch nicht. Paffte die alte Frau von unten etwa heimlich?
    Rún schnupperte und sah noch alarmierter aus.
    »Ich will da nicht rein!«
    »Okay«, entgegnete Óðinn, stolz, dass er inzwischen so entspannt mit seiner Tochter umgehen konnte. »Ich gehe rein und mache das Fenster zu. Wenn ich fertig bin und abgecheckt habe, dass alles in Ordnung ist, kannst du reinkommen. Du kannst ja nicht ewig im Flur stehen bleiben. Und ich habe keine Lust, dein Bett rauszutragen. Weißt du noch, wie schwierig es war, das durch die Tür zu kriegen?«
    Rún lächelte verbissen und sagte:
    »Da drinnen riecht’s nach Rauch. Wie bei Mama.«
    Manchmal war es am besten, die Wahrheit zu sagen, aber manchmal kam auch eine Notlüge in Frage, das wusste Óðinn nur zu gut.
    »Ich weiß«, sagte er. »Baldur hat erzählt, heute wären Handwerker hier gewesen, die unten im Heizungskeller geraucht haben. Er meinte, es könnte im Haus nach Rauch riechen.«
    Natürlich musste es eine Erklärung dafür geben, aber Óðinn wollte sich nicht über Millionen Möglichkeiten den Kopf zerbrechen. Rún brauchte eine klare Antwort, auch wenn er dafür so tun musste, als hätte er mit seinem Bruder gesprochen.
    »Vielleicht mussten sie ja in unsere Wohnung und haben das Fenster aufgemacht.« Sofort bereute er es, das hinzugefügt zu haben. Nun gab es schon zwei mögliche Erklärungen für das offene Fenster. Rún verzog den Mund. »Warte hier, ich mache es zu.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Óðinn geradewegs ins Schlafzimmer und zog den Vorhang beiseite. Das Fenster war geschlossen, genau wie er sich erinnert hatte. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche, ohne auch nur einen Blick an das Wohnzimmerfenster zu verschwenden. Tief im Inneren wusste er, dass der Luftzug nicht aus dem Wohnzimmer kam. Ebenso wenig wie der Zigarettengeruch.
    Das Fenster in der Küche stand sperrangelweit offen. Die Sturmvorrichtung war ausgehängt, und die große Fensterscheibe ragte hinaus in die Welt. Trotz des Windes war der Zigarettengeruch unverkennbar, als hätte jemand soeben eine Kippe ausgedrückt. Die Taubheit, die an seinem Bein hochkroch, hielt Óðinn nicht davon ab, das Fenster zuzuschlagen. Das musste auf Müdigkeit und Stress zurückzuführen sein. Wenn man unter großer Belastung stand,

Weitere Kostenlose Bücher