Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
konnte man alle möglichen Wahnvorstellungen haben. Warum nicht auch Gerüche?
Da erinnerte er sich an die Worte seiner Tochter, als er sie am Morgen geweckt hatte. Sie hatte sich halb aufgesetzt und ihn angeschaut, als schlafe sie noch, dabei waren ihre Augen weit aufgerissen. Dann hatte sie ihn mit heiserer, schlaftrunkener Stimme gefragt, ob ihre Mama noch wütend sei. Óðinn hatte sich gewundert und gesagt, im Himmel sei niemand wütend. Anstatt zu lächeln und aufzustehen, hatte Rún ihn weiter angeglotzt und gesagt, ihre Mama sei nicht im Himmel. Dafür sei sie zu wütend. Óðinn hatte das nicht ernst genommen und sie nicht gefragt, auf wen ihre Mama denn wütend sein solle, weil er meinte, die Antwort zu wissen. Zweifellos hatte Lára ihn manchmal gehasst, wenn er sie ein ums andere Mal enttäuscht hatte. Und er hatte es vollauf verdient. Aber dass diese Wut bis über den Tod hinaus anhalten sollte, war absurd. Immerhin musste man Lára zugutehalten, dass sie immer versucht hatte, ihren Ärger vor Rún zu verbergen, und wenn ihr das im Leben geglückt war, dann würde es im Tod nicht anders sein. Die Kleine musste einen schlimmen Traum gehabt haben.
Dennoch konnte Óðinn das ungute Gefühl nicht abschütteln. Der Ball war ins Rollen gekommen. Er hatte den Eindruck, dass das irgendwie mit dem Erziehungsheim zusammenhing, mit den beiden Jungen, die dort gestorben waren, ohne dass es irgendwen gekümmert hatte. Vielleicht war der Tag der Abrechnung gekommen.
4. Kapitel
Januar 1974
Aldís brannte darauf, zu erfahren, was der neue Junge angestellt hatte. Irgendetwas musste es ja sein – an diesen Ort schickte man niemanden ohne Grund. Meistens hatten die Jungen kleinere Delikte auf dem Kerbholz, doch ohne etwas Genaues zu wissen, glaubte sie, dass das bei Einar, dem Neuen, nicht der Fall war. Er war ein ruhiger Typ und schien gut erzogen zu sein. Ganz anders als die anderen. Er wirkte viel reifer, als hätte er sein Leben besser genutzt. Die anderen Jungen waren ständig in Bewegung, als ticke ein kleiner Motor in ihnen, der stets dem Verbotenen den Vorzug gab. Der neue Junge passte nicht in diese Gruppe, und Aldís hatte den Eindruck, als liege eine Verwechslung vor, als solle ein ganz anderer Einar in Krókur sein.
Sie hatte vergeblich versucht, etwas über seine Vergangenheit herauszufinden. Lilja und Veigar hatten ihr zu verstehen gegeben, dass sie das nichts anginge, und die Arbeiter hatten keine Ahnung. Sie versuchte sich vorzustellen, woraus sein Vergehen bestehen mochte, aber das einzig Sichere war, dass es gereicht hatte, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Was war es gewesen? Veigar wirkte in Einars Anwesenheit immer nervös, er verfolgte ihn ständig mit seinen Blicken, als wolle er wissen, woran er bei ihm sei. Ein ähnliches Verhalten hatte Aldís schon einmal erlebt: Ihr Onkel besaß einen großen Hund, der ihre Tante gebissen hatte, und die verhielt sich in der Nähe der Bestie danach genauso. Aldís hatte sogar selbst Angst vor dem Hund bekommen, obwohl er ihr nie etwas getan hatte. Doch Veigars fahriger Blick hatte den entgegengesetzten Einfluss auf sie – anstatt Angst vor Einar zu bekommen, wuchs ihre Neugier. Zwar flüsterte eine leise, gehässige Stimme in ihrem Unbewussten, sie interessiere sich doch nur für sein Aussehen, doch Aldís verdrängte diesen Gedanken, weil es sie ärgerte, dass sie sich von einem Jungen angezogen fühlte, der viel jünger war als sie. Im Heim waren alle unter sechzehn und in ihren Augen noch Kinder. Aber es ließ sich nicht verleugnen, dass sich Einar von den anderen Jungen abhob. Er war nicht verpickelt und hatte nicht diesen lüsternen Blick, sondern sah fast erwachsen aus, hatte markante Kieferknochen und einen schlanken Körper. Er war größer als die meisten anderen Jungen, und hatte betörend melancholische Augen – was vielleicht nur Einbildung war und von einer Hornhautverkrümmung herrührte.
»Du kannst die Jungen jetzt zum Essen rufen«, sagte Lilja, die den Kopf durch die Küchentür steckte, als Aldís gerade im Speiseraum den Tisch deckte. Sie versuchte immer, es gemütlich zu machen, schaffte es aber nie richtig. Die Tischdecken waren fleckig und das Geschirr bunt zusammengewürfelt. Sie versuchte es möglichst hübsch aufzureihen, eingedenk dessen, dass ihre Mutter ihr vor langer Zeit eingetrichtert hatte, dass man das Essen immer wertschätzen solle, sowohl beim Kochen als auch beim Anrichten. Es sei schließlich nicht
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