Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
selbstverständlich, dass man genug zu essen hätte. Draußen in der Welt gebe es genug Menschen, die abends hungrig zu Bett gingen.
Aldís war zwar noch nie im Ausland gewesen, wusste aber trotzdem, dass ihre Mutter übertrieben hatte. Die wenigen, die sie kannte und die schon im Ausland gewesen waren, hatten mit keinem Wort arme Leute erwähnt. Und sie selbst wäre bereit, einigen Hunger auf sich zu nehmen, um ins Ausland fahren zu dürfen. Sie rückte ein Messer gerade, das sich verschoben hatte. Aldís musste sich immer wieder den Groll ins Gedächtnis rufen, den sie gegen ihre Mutter hegte, die Wut wieder anfachen, die mit der Zeit nachließ. Bei der Erinnerung an die Ohrfeige, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, an das laute Knallen, als die abgearbeitete Hand ihrer Mutter ihr mit voller Wucht ins Gesicht geklatscht war, wurde ihre rechte Wange ganz heiß.
Aldís zog kräftig die Nase hoch. Als damals ein Mann ins Leben ihrer Mutter getreten war, war ihr sofort klar gewesen, dass sich vieles ändern würde. Sie hatte sich für ihre Mutter gefreut, weil sie nicht länger alleine zurechtkommen musste, und sich bemüht, nett zu dem Mann zu sein. Aber sie war nicht auf der Hut gewesen. Sie hatte seine anzüglichen Blicke ignoriert, wie er sich immer an sie gedrängt hatte, so lange, bis dieses nach Schnaps stinkende Schwein sie von hinten überrascht, ihre Brüste zusammengequetscht und ihr ins Ohr geflüstert hatte, er habe längst gemerkt, wie sie ihn anmachen würde, und jetzt könnten sie ja mal … Sie waren alleine zu Hause, und Aldís hatte ihn weggestoßen und gestammelt, er solle sie nicht anfassen. Niemals. Daraufhin hatte der Kerl ihr Schimpfwörter an den Kopf geschmissen, die sie nicht wiederholen wollte, und sich davongemacht. Als ihre Mutter vom Treffen beim Frauenverein zurückkam, erzählte Aldís ihr alles, damit rechnend, dass ihre Mutter Partei für sie ergreifen und das miese Schwein rausschmeißen würde. Die Frau, die ihre Tochter auf Händen getragen und sich abgeplagt hatte, um ihr ein anständiges Zuhause zu geben, starrte sie hingegen nur kalt an, zitterte leicht und gab ihr eine Ohrfeige. Dann zischte sie, sie sei doch nur eifersüchtig und gönne ihr die Liebe nicht. Bevor sie zu einem weiteren Schlag ausholen oder sie weiter beschimpfen konnte, sah Aldís, wie das Leben ihrer Mutter zusammenbrach. Sie schlug sich die sehnige Hand vor den Mund, wie um sich davon abzuhalten, noch mehr zu sagen, sank auf einen Stuhl und weinte. Anstatt ihre Mutter zu trösten und ihr vorzuschlagen, die Sachen dieses Kerls gemeinsam rauszuschmeißen, wurde Aldís unglaublich wütend und packte ihre eigene Tasche. Im Handumdrehen stand sie in der Kälte vor dem schlecht gestrichenen Wohnblock und schaute ein letztes Mal zum Fenster ihres Zimmers hinauf. Von ihrer Mutter hatte sie seitdem nichts mehr gesehen und gehört.
Aldís schniefte und versuchte sich wieder zu fangen. Es brachte nichts, an die Vergangenheit zu denken, die Zukunft war das einzig Wichtige. Sie stellte das letzte Glas auf den Tisch und begutachtete enttäuscht das Ergebnis. Dann ging sie los, um die Jungen zu holen. Sie beeilte sich, denn es gab gekochten Schellfisch, und wenn der zu lange im Topf blieb, schmeckte er nicht mehr. Die armen Jungen hatten den ganzen Nachmittag wie die Tiere geschuftet und etwas Besseres verdient als schlechtes Essen. Auch wenn sie nicht gerade Aldís’ beste Freunde und ihr manchmal nicht ganz geheuer waren, waren sie ihr doch nicht gleichgültig. Sie mussten einem einfach leidtun, weil sie in diesem unnützen Heim gelandet waren. Keiner verließ diesen Ort als besserer Mensch, trotz der christlichen Predigten und der Plackerei, die Körper und Geist beleben sollten.
Die Jungen schliefen in einem Anbau neben dem großen Haus, das den Speiseraum und die Küche beherbergte. Es gab keine Zwischentür, und der Eingang zum Anbau wurde abends abgeschlossen. Zur Steigerung der Gemütlichkeit hatte man Gitter vor den Fenstern angebracht, damit niemand im Schutz der Nacht entwischen konnte. Kurz nach ihrem Arbeitsbeginn hatte Aldís Veigar gefragt, ob er keine Angst habe, dass die Jungen im Anbau verbrennen könnten, falls mal ein Feuer ausbräche. Seine Antwort lautete nur, sie seien ja nicht blöd und durchaus in der Lage, um Hilfe zu rufen. Aldís war froh, dass für das kleine Haus, in dem sie schlief, andere Regeln galten.
Sie ging auf die Tür zum Schlaftrakt der Jungen zu und unterdrückte ein
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