Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Gähnen. In den vorausgegangenen Nächten war sie ständig von Geräuschen vor ihrem Fenster hochgeschreckt, hatte dann aber, als sie wach war, nichts mehr gehört. Einmal hatte sich der Vorhang bewegt, und Aldís hatte im Halbschlaf das Gefühl gehabt, jemand quetsche sich durchs Fenster ins Zimmer. Das war natürlich Unsinn, da sie im ersten Stock wohnte, und es stellte sich auch als falsch heraus. Trotzdem hatte sie sich ihr Kissen über die Ohren gelegt, damit sie einschlafen konnte.
Als sie die Tür aufmachte, kam ihr ein Schwall von Lärm entgegen, und sie merkte, dass sie müder war, als sie gedacht hatte. Jedenfalls zu erschöpft, um dieses Gekreische zu ignorieren. Sie zögerte einen Moment und überlegte, ob sie gefahrlos weitergehen könnte. Die Jungen überschrien sich gegenseitig mit Anfeuerungsrufen und Beschwichtigungsworten. Das war definitiv kein normaler Streit, und Aldís eilte ins Haus. Wenn sie erst Hilfe holen würde, würde sie alles nur noch schlimmer machen, und nicht nur die Jungen, sondern auch die Mitarbeiter bekämen Liljas und Veigars Disziplinarmaßnahmen zu spüren.
Der Anbau war nicht groß: vier Schlafzimmer für die Jungen, ein Aufenthaltsraum, eine Toilette und ein Duschraum mit Waschbecken. Aldís schob sich an zwei jüngeren Bewohnern vorbei, die am Türrahmen lehnten und die Geschehnisse im Aufenthaltsraum halb verdeckten. Sie erschraken, als sie Aldís bemerkten, wirkten dann aber froh, sie zu sehen, als sei sie der Erlöser persönlich, der die bösen Geister vertreiben würde.
»Was ist hier los?«, schrie sie aus Leibeskräften, um den Lärm der aufgestachelten Jungen zu übertönen. Neben den beiden Jüngsten, die im Flur standen, zählte Aldís vier und wunderte sich, wie sie einen solchen Krach verursachen konnten. Sie standen mit dem Rücken zu ihr und verfolgten etwas, das sich neben dem abgewetzten, dreisitzigen Sofa abspielte.
Aldís’ Worte hatten durchschlagenden Einfluss. Die vier Jungen drehten sich gleichzeitig um und starrten sie verständnislos an. Was sollte sie jetzt machen? Die Augen der Jungen glänzten erregt, und ihre Münder standen offen, weil sie mitten im Schreien innegehalten hatten. Aldís konnte nicht sehen, was los war, hörte aber hinter ihnen raschelnde Bewegungen.
»Was macht ihr da?«
Keiner sagte etwas, die Jungen glotzten sie nur an.
»Was ist hier eigentlich los? Geht mal weg da!« Ihre Stimme klang energischer, als sie sich anfühlte, und zum Glück gehorchten die Jungen und wichen zur Seite. Aldís war sich nicht sicher, was sie gemacht hätte, wenn sie sich gegen sie gewandt hätten.
Auf dem Boden lagen zwei Jungen und prügelten sich. Was an diesem Ort keineswegs ungewöhnlich war – Aldís hatte schon reichlich Raufereien gesehen, seit sie in Krókur angefangen hatte. Aber das hier war mehr als eine normale Rangelei: Zwei Jungen prügelten aufeinander ein, packten sich dann hasserfüllt und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken.
Es handelte sich um Einar, den Neuen, und einen der Größeren, der schon lange im Heim war, und Keli hieß. Die Kleinen hatten fast mehr Angst vor ihm als vor Veigar, denn er entdeckte zielsicher ihre wunden Punkte und hatte ein sadistisches Vergnügen daran, Schwächere zu quälen. Wider Erwarten schien Keli unterlegen zu sein, und Aldís fiel auf, dass sie ihn noch nie bei einer Prügelei gesehen hatte. Normalerweise waren seine Opfer schlau genug, sich ihm unterzuordnen. Und das war natürlich die Erklärung für den Lärm: Alle wollten sich an ihm rächen. Was sollte Aldís machen? Sie war nicht stark genug, um Einar von Keli wegzuziehen, und selbst als Mann hätte sie sich nicht mit ihm anlegen wollen. Einar, der sonst eher traurig und verträumt wirkte, schäumte vor Wut und fletschte die Zähne wie ein Hund oder ein wildes Tier, das einen Bissen Fleisch zerreißen will. Seine Augen waren so hasserfüllt, dass sie aussahen wie die eines älteren Mannes im Gesicht eines Jungen. Keli war starr vor Entsetzen. Einar würgte ihn, und Kelis Gesicht wurde immer röter. Aldís schluckte.
»Hört auf! Es gibt Essen!«
Die Worte kamen wie von selbst, und Aldís’ Stimme klang ganz normal. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte hinaus. Einer der kleinen Jungen in der Türöffnung raunte ihr, als sie an ihm vorbeiging, verschwörerisch zu:
»Keli hat gesagt, Einars Freundin sei eine Hure. Eine perverse Hure.«
Aldís’ Bemühungen, den Speiseraum hübsch zu gestalten, waren
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