Seelen
auch schmecken konnte.
Ich hatte so viele Fragen im Kopf und Melanie ebenfalls. Sie hätte ihre gerne gestellt, aber ich blieb stumm. Es gab nichts zu sagen, was uns jetzt weiterhelfen würde.
»Alles klar, du kannst dich wieder aufrichten«, sagte Jeb. Langsam hob ich den Kopf.
Sogar mit Augenbinde konnte ich erkennen, dass es kein Licht gab. An den Rändern des Halstuchs war es pechschwarz. Ich hörte die anderen hinter uns ungeduldig mit den Füßen scharren, während sie darauf warteten, dass wir weitergingen.
»Hier lang«, sagte Jeb und führte mich weiter. Unsere Schritte hallten von nahen Wänden wider - der Ort, an dem wir uns befanden, musste relativ beengt sein. Ich merkte, wie ich instinktiv den Kopf einzog.
Wir gingen noch ein paar Schritte weiter und bogen dann um eine scharfe Kurve, die uns in dieselbe Richtung zurückzuführen schien, aus der wir kamen. Der Weg begann bergab zu führen. Mit jedem Schritt wurde er steiler und Jeb reichte mir seine raue Hand, damit ich nicht hinfiel. Ich wusste nicht, wie lange ich durch die Dunkelheit schlitterte und rutschte. Vermutlich kam es mir länger vor, als es wirklich dauerte, weil jede Minute so schrecklich war.
Wir bogen erneut ab und dann stieg der Weg wieder an. Meine Beine waren so taub und hölzern, dass mich Jeb halb ziehen musste, als die Steigung stärker wurde. Je weiter wir kamen, desto modriger und feuchter wurde die Luft, aber die Schwärze veränderte sich nicht. Die einzigen Geräusche waren unsere Schritte und ihr nahes Echo.
Der Pfad wurde wieder eben und begann sich wie eine Schlange hin und her zu winden.
Endlich, endlich war ein wenig Helligkeit an den Rändern meiner Augenbinde zu sehen. Ich hoffte, sie würde verrutschen, war aber zu ängstlich, um sie selbst abzunehmen. Ich hatte das Gefühl, ich würde weniger Angst haben, wenn ich bloß sehen könnte, wo ich war und wer mich begleitete.
Mit dem Licht drangen auch Geräusche zu mir. Eigenartige Geräusche, ein leises, plätscherndes Gemurmel. Es hörte sich fast an wie ein Wasserfall.
Das Gemurmel wurde lauter, als wir weitergingen, und je näher es kam, desto weniger klang es nach Wasser. Es war zu veränderlich, bestand aus tiefen und hohen Tönen, die sich vermischten und widerhallten.
Wenn es nicht so unharmonisch gewesen wäre, hätte es wie eine hässlichere Version der Musik geklungen, die ich in der Singenden Welt ständig gehört und gesungen hatte. Die Dunkelheit hinter der Augenbinde passte zu dieser Erinnerung, der Erinnerung an Blindheit.
Melanie konnte den Missklang früher deuten als ich. Ich hatte das Geräusch noch nie gehört, da ich nie zuvor mit Menschen zusammen gewesen war.
Ein Streit, sagte sie. Es hört sich so an, als würden unheimlich viele Leute miteinander streiten.
Sie wurde von dem Geräusch angezogen. Waren hier etwa noch mehr Menschen? Schon die Acht hatten uns beide überrascht. Wo waren wir hier?
Hände berührten meinen Nacken und ich zuckte vor ihnen zurück.
»Ganz ruhig jetzt«, sagte Jeb. Er nahm mir die Augenbinde ab.
Ich blinzelte langsam und die dunklen Umrisse um mich herum wurden zu Formen, die ich einordnen konnte: raue, unebene Wände, eine buckelige Decke, ein ausgetretener, staubiger Fußboden. Wir waren irgendwo unter der Erde, dies war eine natürlich entstandene Höhle. Wir konnten nicht allzu tief sein. Ich hatte das Gefühl, dass wir länger bergauf gestiegen als bergab gerutscht waren.
Die Felswände und die Decke waren von einem dunklen, rötlichen Braun und von Löchern übersät wie Schweizer Käse. Die Ränder der unteren Löcher waren abgeschliffen, aber die Kreise über meinem Kopf waren deutlicher begrenzt und schienen scharfe Kanten zu haben.
Das Licht drang durch ein rundes Loch vor uns. Es war ähnlich geformt wie die übrigen Löcher in der Höhle, aber größer. Wir standen an einem Durchgang, an der Schwelle zu einem helleren Raum. Melanie war aufgeregt, fasziniert von der Vorstellung, es könne hier noch mehr Menschen geben. Ich zögerte und fragte mich plötzlich, ob ich die Blindheit dem Sehen vielleicht doch vorziehen würde.
Jeb seufzte. »Entschuldigung«, murmelte er so leise, dass es außer mir niemand hören konnte.
Ich versuchte vergeblich zu schlucken. Mein Kopf begann sich zu drehen, aber das konnte auch am Hunger liegen. Meine Hände zitterten wie Blätter im Wind, als Jeb mich durch die Öffnung schob.
Der Tunnel führte in einen Raum, der so groß war, dass ich zunächst gar nicht
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