Seelen
unvoreingenommen zu betrachten - den Jugendlichen mit dem mürrischen Gesicht, der mit verschränkten Armen an der Wand des Tunnels lehnte. Ich versuchte ihn als Fremden zu sehen und meine Gefühle für ihn, oder meinen Mangel an Gefühlen, entsprechend zu steuern. Ich versuchte es, aber es gelang mir nicht. Es war Jamie, er war schön und meine Arme - meine, nicht Melanies - sehnten sich danach, ihn zu umfassen. Tränen traten mir in die Augen und liefen mir über das Gesicht. Ich konnte nur hoffen, dass sie in dem gedämpften Licht nicht zu sehen waren.
»Jeb«, grüßte Jamie schroff. Er sah mich kurz an und dann sofort wieder weg.
Was für eine tiefe Stimme er hatte! War er wirklich schon so alt? Mit doppelten Schuldgefühlen stellte ich fest, dass er vor Kurzem Geburtstag gehabt hatte. Melanie zeigte mir das Datum, es war der Tag gewesen, an dem ich zum ersten Mal von ihm geträumt hatte. Sie hatte sich den ganzen Tag über so angestrengt, ihren Schmerz für sich zu behalten, ihre Erinnerungen zu verbergen, um den Jungen zu schützen, dass er in ihren Träumen aufgetaucht war. Und ich hatte der Sucherin gemailt.
Ich schauderte, als ich daran zurückdachte, und konnte nicht glauben, dass ich je so gefühllos gewesen war.
»Was hast du hier zu suchen, Junge?«, wollte Jeb wissen.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte Jamie zurück.
Jeb schwieg.
»War das Jareds Idee?«, bedrängte ihn Jamie.
Jeb seufzte. »Okay, nun weißt du also Bescheid. Was hast du davon, hm? Wir wollten dich nur …«
»Schützen?«, unterbrach er ihn unfreundlich.
Was hatte ihn so verbittert gemacht? War das meine Schuld? Natürlich war es das.
Melanie begann in meinem Kopf zu schluchzen. So laut, dass es mich ablenkte - Jebs und Jamies Stimmen hörten sich dadurch an, als wären sie weit entfernt.
»Gut, Jamie. Du brauchst also keinen Schutz. Was willst du dann?«
Diese schnelle Kapitulation schien Jamie aus dem Konzept zu bringen. Sein Blick wanderte zwischen Jebs Gesicht und meinem hin und her, während er krampfhaft versuchte, sich etwas einfallen zu lassen.
»Ich … ich will mit ihr … mit ihm reden«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang höher, wenn er unsicher war.
»Sie sagt nicht viel«, erklärte Jeb, »aber du kannst es gern versuchen.«
Jeb befreite seinen Arm aus meiner Umklammerung. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an die nächstgelegene Wand und ließ sich daran heruntergleiten, bis er auf dem Boden saß. Er rutschte hin und her, bis er eine bequeme Position gefunden hatte. Das Gewehr hatte er quer über seinen Schoß gelegt. Sein Kopf sank zurück an die Wand und er schloss die Augen. Sekunden später sah er aus, als würde er schlafen.
Ich stand immer noch da, wo er mich zurückgelassen hatte, und versuchte immer wieder, den Blick von Jamies Gesicht abzuwenden - vergeblich.
Jamie war erneut überrascht, wie schnell Jeb eingewilligt hatte. Mit großen Augen, die ihn jünger aussehen ließen, starrte er den alten Mann auf dem Boden an. Nach ein paar Minuten, während deren Jeb sich kein bisschen gerührt hatte, sah Jamie wieder zu mir herüber und kniff die Augen zusammen.
Die Art, wie er mich ansah - wütend, während er versuchte, mutig und erwachsen zu wirken, aber gleichzeitig so voller Angst und Schmerz -, ließ Melanie noch lauter schluchzen und meine Knie zittern. Um nicht noch einen Zusammenbruch zu riskieren, ging ich langsam zu der Tunnelwand, die Jeb gegenüberlag, und sank auf den Boden. Ich umschlang meine angewinkelten Knie mit den Armen und versuchte mich so klein wie möglich zu machen.
Jamie sah mich scheu an, dann kam er vier langsame Schritte auf mich zu, bis er direkt über mir stand. Er warf Jeb, der sich nicht bewegt hatte und die Augen weiterhin geschlossen hielt, einen kurzen Blick zu und kniete sich neben mich. Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst, was ihn erwachsener aussehen ließ als jeder andere Ausdruck bisher. Beim Anblick des traurigen Mannes im Gesicht des kleinen Jungen zog sich mir das Herz zusammen.
»Du bist nicht Melanie«, sagte er leise.
Jamie gegenüber war es schwieriger zu schweigen, denn jetzt war ich diejenige, die mit ihm sprechen wollte. Aber nach kurzem Zögern schüttelte ich nur den Kopf.
»Aber du steckst in ihrem Körper.«
Nach einer weiteren Pause nickte ich.
»Was ist mit deinem … mit ihrem Gesicht passiert?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht, wie mein Gesicht aussah, aber ich konnte es mir vorstellen.
»Wer
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