Seelenangst
Mann, der ihm den Umschlag hinhielt.
»Lukas« hatten sie den Jungen genannt, als er zu ihnen gekommen war, denn einen wirklichen Namen schien er nicht zu haben. In der Wohnung, aus der er kam, hatte es nicht einmal eine Taufurkunde gegeben. Niemand wusste, woher er kam. Mit seinen dunklen Haaren und den großen braunen Augen sah er jedenfalls ein bisschen südländisch aus.
Am liebsten trug Lukas seine blaue Latzhose. Vorn auf der Brusttasche waren Tick, Trick und Track aufgenäht. Diese Hose trug er auch an diesem Tag, als er zu dem schwarz gekleideten Mann hinaufblickte, der ihm den Umschlag entgegenhielt.
Zögernd machte Lukas einen Schritt auf den Fremden zu, obwohl er eigentlich zurückweichen wollte. Dann machte er noch zwei Schritte. Es waren seltsam ruckartige, roboterhafte Bewegungen, aber so bewegte Lukas sich immer. Manchmal lief er ein paar Schritte, dann stoppte er. Blieb stehen, starrte minutenlang ins Nichts, schluckte und zitterte, als würde er sich an irgendetwas Schreckliches erinnern, das er verdrängt hatte. Manchmal ging er nachts durch die Flure des Heims, mit weit aufgerissenen Augen. »Das Irrlicht« hatten einige der Pfleger ihn genannt, denn er irrte ohne erkennbares Ziel durch die Gänge, auf der Suche nach einer Vergangenheit, die er niemals verstehen durfte.
Und er sprach nie. Die Ärzte redeten von Katatonie oder Mutismus, wenn jemand einen so schweren Schock erlitten hatte, dass er danach nicht mehr sprechen konnte. So war es auch bei Lukas.
In dem Heim, in dem er untergebracht war, hatte man schon viele traumatisierte Kinder gesehen. Kinder, die ausgesetzt worden waren, die man geschlagen, missbraucht und manchmal fast getötet hatte. Doch was mit dem kleinen Lukas geschehen war, hatte selbst den hartgesottensten Pflegern und Rechtsmedizinern den Schlaf geraubt. Und nie hatte jemand den Jungen weinen gesehen. Deshalb hatten die anderen für ihn geweint.
Sie hatten ihn vor drei Jahren nachts auf der Straße gefunden, halb nackt, halb erfroren und in einem Delirium aus animalischer Angst und völliger Lethargie.
Lukas, das Irrlicht.
Doch das Grauen, das danach kam, war noch größer gewesen. In der Rechtsmedizin hatten sie eine neue Abteilung eröffnet, die Abteilung für klinische Rechtsmedizin, wo man rechtsmedizinische Methoden der Analyse auch bei lebenden Opfern anwendete. Tote können nicht sprechen, daher müssen die Ergebnisse der Rechtsmedizin so hieb- und stichfest sein, dass niemand sie vor Gericht anzweifeln kann. Doch nicht nur die Toten schweigen, auch Kinder können manchmal nichts mehr von sich geben. Oder sie trauen sich nicht, weil sie von den Eltern abhängig sind, die sie geschlagen und misshandelt haben. Kinder, die sich nicht vorstellen können, dass die eigenen Eltern ihnen etwas Böses antun, selbst wenn sie es tun. Kinder, die nicht aussprechen wollen, dass sie keineswegs »gestolpert« sind, sondern die Treppe hinuntergestoßen wurden.
Doch Lukas konnte wirklich nicht sprechen.
Manche Pfleger erinnerten sich mit Schaudern an die Nacht, als sie ihn gefunden hatten, an das grelle Licht im Untersuchungsraum und an den Ausdruck in den Augen der Rechtsmedizinerin, der erkennen ließ, dass nicht einmal sie so etwas schon einmal gesehen hatte. Oberkörper und Arme des Jungen waren blau und grün von Hämatomen, der Bauch und die Beine eine schrundige Narbenwüste aus roten, entzündeten Kratern und Striemen. Jemand hatte Lukas mit glühenden Zigaretten gefoltert. Doch sein Peiniger hatte es nicht bei Schlägen und Zigaretten belassen. Er hatte Lukas auch sexuell missbraucht.
Seitdem lebte der kleine Junge in einer Welt, die nur er allein kannte.
Wieder machte Lukas ein paar unsichere Schritte nach vorn, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Dann ergriff er den Umschlag mit beiden Händen, während der Mann unverwandt auf ihn hinunterstarrte.
»Das könnte dich interessieren«, sagte der Fremde.
Dann drehte er sich um und ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Er sah nicht die Tränen des Kindes.
Tränen in Augen, die noch nie geweint hatten.
8
Don Tomasso Tremonte durchschritt den langen Korridor, an dessen Ende sich der Eingang zum Auditorium Maximum der Santa-Croce-Universität befand.
Gott und das Böse.
»Der Feind ist übermächtig«, hieß es im Vatikan. Und auf Geheiß des Papstes war die Zahl der Exorzisten aufgestockt worden, eine Berufsgruppe, von der man glaubte, sie sei mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert verschwunden und
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