Seelenangst
Seelen, die in einem Haus spuken. Die Lehre des Rituale besagt, dass es sich um böse Geister handelt.«
Das Rituale , dachte Don Tomasso. Das Handbuch aller Rituale der katholischen Kirche, auch des Exorzismus. Eines von de la Torrez’ Lieblingsthemen.
Der philippinische Student fuhr fort: »Aber oft wissen diese verlorenen Seelen etwas, das nur der Verstorbene wissen konnte. Kann es nicht sein, dass es tatsächlich Tote sind? Dass einige Seelen im Verborgenen zwischen den Sphären umherirren?«
Alvaro kniff die Lippen zusammen und schüttelte noch einmal den Kopf. »Wir wissen nichts über die Geheimnisse Gottes, aber die Existenz umherirrender Seelen ist eschatologisch unmöglich. Jeder Mensch gelangt mit dem Tod sofort ins Paradies, in die Hölle oder ins Fegefeuer, etwas anderes gibt es nicht. Verlorene Seelen sind böse Geister, Dämonen, die uns verlocken und verleiten wollen.«
»Und sie wissen Dinge, die eigentlich nur die Verstorbenen wissen können?«, hakte der Student nach.
Alvaro nickte. »Deshalb sind sie Dämonen. Sie können sich binnen Sekunden von einem Ort zum anderen bewegen. Und sie können die Gedanken der Menschen lesen. Sie sind reine Geister, ohne Körper.«
»Und woran erkennt man Besessenheit? Wann ist ein Exorzismus erforderlich?«, fragte ein französischer Priesteranwärter. »Und läuft es dann so ab wie in den Horrorfilmen?«
Ein unsicheres Lachen ging durch den Saal.
Don Alvaro schürzte die Lippen. »Das sind viele Fragen, junger Mann, und sehr bedeutsame noch dazu. Wir werden uns den Themen Besessenheit und Exorzismus noch in aller Ausführlichkeit widmen, aber gestatten Sie mir eine kurze Übersicht, um die größte Neugier zu befriedigen.«
Er ging nach vorne zum Laptop.
9
Als Franco Gayo erwachte, lag er auf dem Rücken. Er blinzelte und sah die Stuckdecke seines Büros. Neben ihm stand das Paar Budapester Schuhe. Die Jalousien waren heruntergezogen. Durch die Schlitze sah er einen rötlichen Schimmer am Himmel. War das noch die Abenddämmerung oder etwa schon der Morgen? Wie lange hatte er hier gelegen?
Er versuchte sich zu bewegen, aber es ging nicht. Er zerrte an seinen Handgelenken, die offenbar gefesselt waren. Arme und Beine kamen ihm wie Fremdkörper vor; er konnte sie bewegen, spürte aber nichts.
War er betäubt worden? Aber warum?
Schmerz durchzuckte seine Hände und Füße, wenn er an den Fesseln zerrte. Was waren das überhaupt für Fesseln? Er konnte die Hände nur millimeterweise bewegen, doch sie rutschten über das Parkett, als wäre es von irgendeiner Flüssigkeit bedeckt.
Dann stieg ihm ein kupferner Geruch in die Nase, und eine furchtbare Ahnung überkam ihn.
Nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein.
Aber es war so.
Jemand hatte ihn auf den Boden genagelt.
Franco Gayo versuchte zu schreien, bekam aber keinen Laut heraus. Den Mund weit aufgerissen, brachte er nur einen Schwall Luft hervor, begleitet von einem beißenden Schmerz an den Stimmbändern.
O Gott, was hat man mit mir gemacht? Was ist mit meiner Stimme?
Als er den Mund schloss und die Augen wieder öffnete, sah er den Mann. Er trug einen Ganzkörperoverall wie ein Mitarbeiter der Spurensicherung, da diese Kleidungsstücke keine Textilfasern abgeben und nichts am Tatort hinterlassen. Außerdem verhindert der Endlosfaservlies, dass Partikel von Haut oder Kleidung nach außen dringen. Dazu trug der Mann eine schwarze Brille, die auch an den Seiten abgedeckt war.
Und in der rechten Hand hielt er eine doppelschneidige, lange Waffe.
Ein Schwert, scharf und funkelnd.
Doch es war keine von diesen verzierten Waffen, die nostalgisch aussehen sollten. Dies hier war nur eine echte Klinge mit zwei Schneiden. Blitzend und scharf. Einen Meter sechzig lang. Nicht zur Dekoration, sondern zum Schneiden. Oder zum Stechen. Oder beides.
Gayo atmete so heftig ein, dass er husten musste. Sein Puls raste, und er zitterte am ganzen Körper.
Was will dieser Kerl? Was will er mit dem Schwert?
Der Mann trat näher an Gayo heran und starrte durch die schwarzen Gläser der Brille auf ihn hinunter.
Franco Gayo wusste nicht, wann er zuletzt gebetet hatte, aber jetzt tat er es nach langer Zeit wieder.
O Gott, lass nicht zu, dass er mich tötet! Lass nicht zu, dass er mich …
Wieder blickte er auf die Waffe in der Hand des Fremden, die in einem schwarzen Handschuh steckte, auf die funkelnde Klinge, starrte in die ausdruckslose Schwärze der Brille, sah die zusammengepressten Lippen des Mannes, den
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