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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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nestelte an seiner Brille und ergriff den Zipfel der Plastikfolie. »Haben Sie genug gesehen?«
    Clara schaute noch einmal in das erschlaffte Gesicht und nickte. »Mehr als Sie kann ich auch nicht feststellen.«
    Von Weinstein zog die Folie über Gayos Kopf.
    »Er ist seit ungefähr zwei Tagen tot?«, fragte Clara.
    Von Weinstein nickte. »Sieht so aus. Die Leichenstarre hat sich bereits wieder gelöst, und die Grünfäulnis im rechten Unterbauch hat gerade erst begonnen. Der Verwesungsprozess wäre weiter fortgeschritten, hätte er länger als zwei Tage hier gelegen.«
    Clara nickte. Die Leichenfäulnis begann stets als grüner Fleck im rechten Unterbauch, da die Fäulnis als Erstes von den Darmbakterien ausging und der Darm hier direkt unter der Bauchdecke lag. Die Leichenstarre löste sich dann aufgrund der Fäulnis und der damit verbundenen Zersetzung der Muskulatur.
    Untersuchungen zur Eingrenzung der Todeszeit wurden immer gleich am Fundort einer Leiche vorgenommen, niemals im Sektionssaal. Eine viertel bis eine halbe Stunde nach dem Tod kam es normalerweise zur Bildung sogenannter Leichenflecken, fleckigen Ansammlungen von Blut unter der Haut, weil das Herz nicht mehr schlägt und das Blut in den Gefäßen nicht mehr transportiert wird, sodass die Blutzellen absinken. Auch nach dem Tod bleibt die Körpertemperatur von etwa siebenunddreißig Grad für ungefähr drei Stunden konstant. Danach verringert sie sich um jeweils ein Grad pro Stunde. Fand man also eine Leiche mit einer Körpertemperatur von zwanzig Grad bei normaler Raumtemperatur, war diese Leiche seit ungefähr zwanzig Stunden tot.
    Hatte die Körpertemperatur des Ermordeten allerdings bei mehr als siebenunddreißig Grad gelegen – zum Beispiel, weil er Fieber gehabt hatte –, konnte es die Ermittlungen gehörig durcheinanderbringen. Der scheinbare Todeszeitpunkt konnte dann ein paar Stunden nach dem tatsächlichen Zeitpunkt des Todes liegen; die Tat war dann nicht um dreizehn Uhr, sondern um fünfzehn Uhr verübt worden. Ein Mörder konnte die Tat um dreizehn Uhr begangen haben und um fünfzehn Uhr im Flugzeug sitzen; auf diese Weise hatte er ein todsicheres Alibi.
    Clara schob den Gedanken beiseite. Diesem Mörder war es mehr auf die perfekte Inszenierung seiner Tat angekommen als auf die Vertuschung des Todeszeitpunkts.
    Der rechtsmedizinische Assistenzarzt hatte ein weiteres Laptop aufgeklappt. Clara kannte das Programm, mit dem er arbeitete. Man konnte sämtliche Parameter eingeben: Körpertemperatur, Ausbreitung der Leichenflecken, Änderung der Umgebungstemperatur, die elektrische Erregbarkeit der Muskulatur und die Reaktion der Pupillen auf Medikamente. Ging alles gut, gab das Programm ein genaues Todeszeitintervall an.
    Von Weinstein bemerkte Claras Blick auf das Laptop. »Das Programm hat es uns auch bestätigt«, sagte er. »Der Todeszeitpunkt war Samstagabend gegen achtzehn Uhr.«
    »Dann hat der Täter ihn vielleicht am Freitagabend besucht und sich den ganzen Samstag mit ihm … beschäftigt?«
    »Möglich.«
    Wieder nahm das Grauen Claras Herz in einen eisigen Klammergriff.
    Freitagabend bis Samstagabend. Vierundzwanzig Stunden in den Händen dieses Monsters …
    Ihr Blick schweifte zu den Fenstern, wo die blassrote Sonne zwischen regenschweren, schwarzgrauen Wolken in einem Meer aus braungrauem Matsch versank, glitt über die Wände des Büros, die Mahagoni-Regale, die Viertausend-Euro-Deckenstrahler, die kostbaren Kunstdrucke – und blieb an der Stirnseite des Büros haften, genau über der zweiflügeligen Verbindungstür zum Vorzimmer. In rotbrauner Farbe stand dort:
    MEIN NAME IST LEGION. TAUSENDE GIBT ES VON MIR.
    Claras Blick wechselte zwischen den Worten, von Weinstein, dem Assistenten mit der Tüte, der Leiche und wieder den Worten hin und her.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie.
    Von Weinstein und der Assistenzarzt zuckten die Schultern, als sähen sie es eher in Claras Zuständigkeitsbereich, den Sinn dieser Worte zu entschlüsseln.
    Clara bemerkte eine große Gestalt an der Tür, die ihre Adlernase ins Zimmer streckte, ehe sie in einem wehenden Mantel näher kam, wobei sie sich mit einer Hand durch die Haare fuhr.
    »Ich sehe zwar nicht, was Sie gerade sehen«, sagte Winterfeld, »aber ich sehe, dass ich mal wieder recht hatte.«
    Clara kniff die Lippen zusammen, nickte und erinnerte sich an seine Worte während ihres gemeinsamen Gesprächs vorhin am Fenster im LKA: Die Stille war ein bisschen zu lang, um gesund zu

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