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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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Opfer. Es traf noch viele andere – die »sekundären Opfer«, wie man sie in der Kriminologie nannte.
    »Das hier«, sagte der Kriminaltechniker, »haben wir hier im Büro gefunden. Es war unter dem Tisch beim Empfang befestigt.« Er hielt einen kleinen Metallgegenstand in die Höhe. »Ein Mobile Jammer. Er unterbindet in einem Radius von zwanzig Metern jeglichen Mobilfunkverkehr. Hat normalerweise nur das BKA oder irgendwelche Drogenbosse.«
    »Was war mit Festnetz?«
    »Das Gleiche. Der Täter hat eine Mailbox eingerichtet, sodass eingehende Anrufe beantwortet wurden, aber keine Anrufe nach draußen möglich waren.«
    Keine verdächtigen toten Leitungen, wenn jemand anruft. Schlau. Clara trat näher an die Leiche heran, an die weiße Folie und an den Mann, der vor dem Toten kniete und in sein Diktiergerät sprach. Als er die Schritte hinter sich hörte, erhob er sich und nickte Clara zu.
    »Frau Vidalis, da sind Sie ja«, sagte er, rückte seine Brille zurecht und schaltete das Diktiergerät aus. Dr. von Weinstein, der stellvertretende Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, sah mit seinen grauschwarzen Haaren, die er nach hinten gegelt hatte, seiner silbernen Designerbrille und seinem gebräunten Teint eher wie ein Sunnyboy aus dem Robinson Club aus, der dem kahlköpfigen, graugesichtigen Klischee des Rechtsmediziners so gar nicht entsprach. Doch an diesem Tatort war sogar er blass geworden.
    »Franco Gayo«, sagte er. »45 Jahre alt, männlich, weiß – und tot.«
    »Das sehe ich«, sagte Clara.
    »Wollen Sie?«, fragte von Weinstein und zog an der weißen Plastikfolie, die auch das Gesicht der Leiche bedeckte.
    »Muss ich ja wohl.«
    Er zog die Folie zurück.
    Nicht nur der Anblick, auch der faulig-süßliche Geruch, der von der Leiche ausging, ließ Clara zurückweichen. Ihr war, als würde ein brutaler Schlag ihr die Luft aus der Lunge treiben. Du musst es ertragen, beschwor sie sich. Du musst stärker sein als das Grauen. Es war wie mit dem Geruch. Manche rieben sich die Nase mit Menthol ein, wenn sie einen Sektionssaal betraten, doch Clara wusste, dass es den Ekel nur umso schlimmer machte. Am besten gleich tief einatmen, den Tod umarmen, wenn er einen angrinst, und zurückgrinsen. Alles andere war Augenwischerei.
    Die Leiche war nackt. Der Killer musste Gayo ausgezogen haben. Es war Clara in diesem Moment egal, ob das Opfer ein Mann oder eine Frau war, sie sah ohnehin nur, was der Killer in diesen vermutlich endlosen Stunden des Grauens und der Dunkelheit getan hatte. Sie sah das Schwert, sah den Griff der Waffe, wo sie in den Körper Gayos eingedrungen war. Sie sah, wie sich die Klinge im Fleisch abzeichnete, und schaute auf das Genick, das der Killer zurückgedreht hatte, damit das Schwert aus dem Mund herausdrang, nicht aus dem Hals oder dem Unterkiefer. Sie sah die lange, blutige Klinge, die wie eine dünne eiserne Zunge aus Gayos klaffendem Mund ragte.
    Clara starrte auf diese bestialische Inszenierung des Grauens wie auf ein dämonisches Gegenüber, das einen so lange anstarrt, bis man den Blick senkt. Doch sie war nicht bereit, den Blick zu senken. Sie musste es sehen, verarbeiten, abspeichern, um es später wieder abrufen zu können.
    21, 22, 23 …
    Clara zählte bis 30, dann wandte sie den Blick ab.
    »Alles in Ordnung?« Von Weinstein musterte sie beunruhigt.
    Sie atmete tief ein und aus. »Es geht schon wieder.«
    Die Folie fiel wieder auf die Leiche herunter, sodass nur noch der Kopf zu sehen war.
    Das Schwert, das aus dem Mund ragt, dachte Clara. Wenn der Täter so viel Wert auf diese Inszenierung legt, muss sie irgendetwas bedeuten.
    Sie kannte die Klischees, dass der Augenblick des Todes gleichsam für immer in einem Gesicht eingemeißelt blieb. Aber das war Unsinn, denn mit dem Aussetzen des Herzschlags erschlafften sämtliche Muskeln. Danach verfestigte die einsetzende Leichenstarre den Gesichtsausdruck, der mit dieser Erschlaffung einherging.
    Aber da war noch etwas gewesen.
    Clara zog noch einmal die Folie zurück. Und dann sah sie es wieder.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    Tief in der Kehle des Toten sah sie ein bronzefarbenes Schimmern.
    Von Weinstein zuckte die Schultern. »Das müssen wir nachher in Moabit feststellen, das habe ich auch bereits bemerkt. Aber bevor wir da näher herankönnen, müssen wir das Schwert entfernen. Und das dauert seine Zeit. Wir können die Klinge ja nicht einfach herausziehen, sondern müssen den Wundkanal vorher schichtweise präparieren.« Er

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