Seelenangst
ein noch ziemlich junger Bursche, fragte Clara: »Stimmt die Geschichte?«
»Welche Geschichte?«
»Was er mit dem Mann gemacht hat.«
»Ich habe es noch nicht gesehen, aber wenn Dr. von Weinstein es sagt, wird es wohl so sein.« Carla blickte dem jungen Beamten in die Augen. »Wenn es nicht unbedingt sein muss, schauen Sie nicht hin. Es sei denn, Sie wollen die nächsten Nächte nicht schlafen.«
Der Polizist wurde blass und nickte. Im selben Moment öffnete sich die Aufzugstür. Absperrband, Scheinwerfer der Spurensicherung und ein Assistenzarzt der Rechtsmedizin in einem der weißen Papieranzüge aus Endlosfaser erwarteten Clara.
»Frau Vidalis?«, fragte der Mann.
Sie nickte.
Er wies durch das Vorzimmer nach hinten in das große Büro Gayos, aus dem Stimmengewirr drang und wo sich von Weinstein über irgendetwas beugte, was dort am Boden lag. Die Leiche lag unter einer weißen Folie.
Clara atmete tief ein und durchquerte das Vorzimmer, vorbei an dem grellen, heißen Licht der Scheinwerfer.
Der Geruch traf sie wie ein Hammerschlag.
Sie sah die Leiche nicht, doch an den Ecken der Folie sah sie Hände und Füße, die noch immer mit dicken Nägeln fixiert waren, die jemand in den Parkettboden getrieben hatte. Sie sah das Blut, das an den Füßen der Leiche unter der Plastikfolie das Holz getränkt hatte.
Kamerablitze zuckten und ließen bunte Schatten vor Claras Augen tanzen. Einer der Techniker hatte schon etliche Fotos auf einen Laptop der Rechtsmedizin gezogen, der auf dem Schreibtisch des Ermordeten stand. Zwei Kriminaltechniker waren damit beschäftigt, Boden und Wände mit Grafitpinseln abzutupfen, um mögliche Fingerabdrücke zu entdecken, während ein anderer nach Hautschuppen, Haaren oder anderem organischen Material des Täters suchte, das eine DNA-Probe ermöglichte. Ein Asservatenkoffer stand offen neben ihm. »Keine Haare, nichts bisher«, rief er einem der Kollegen zu. Clara erstaunte das nicht. Sie wusste, wie viele Vergewaltiger und Serienmörder sich die Körperhaare rasierten, damit nichts, aber auch gar nichts am Tatort zurückblieb.
Sie blickte zum Fenster, wo eine große Leinwand aufgestellt worden war, wie man sie für Präsentationen verwendete. Ungefähr fünf Meter entfernt, auf der anderen Seite des Büros, stand ein Beamer. Er war ausgeschaltet.
Dem Kriminaltechniker, der Clara begleitet hatte, war ihr Blick nicht entgangen. Er war ein noch ziemlich junger Mann, den die Schrecken in diesem Büro nicht allzu sehr zu beeindrucken schienen. »Wir wissen noch nicht, was die Leinwand und der Beamer hier sollen«, sagte er. »Möglicherweise stammt beides vom Täter.«
Clara nickte. »Erzählen Sie weiter.«
»Das Opfer ist seit ungefähr zwei Tagen tot. Ein Mann vom Reinigungsdienst hat die Leiche entdeckt, als das Büro heute Mittag um dreizehn Uhr immer noch geschlossen war.« Er atmete hörbar aus. »Der Mann hatte einen schweren Nervenzusammenbruch. Er ist jetzt beim Notarzt und kommt anschließend in psychologische Behandlung.«
Clara kannte solche Fälle. Die wenigsten Menschen konnten mit so etwas fertig werden – im Unterschied zu erfahrenen Ermittlern wie sie. »Horror-Teflon« hatte Winterfeld es einmal genannt. Damit meinte er, dass mit zunehmender Erfahrung das Grauen und der Schrecken an einem abglitten wie Fett an einer Teflon-Beschichtung.
Doch manchmal fragte Clara sich trotzdem, ob sie durch diese Abgestumpftheit im Angesicht des Grauens, die sich über die Jahre gebildet hatte, nicht selbst schon wie eines der Monster geworden war, die sie jagte. »Wer sich mit Ungeheuern befasst, muss achtgeben, dass er nicht selbst eins wird«, hatten die Profiler beim FBI gesagt. Und bei Nietzsche hieß es: »Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« Beide hatten recht.
»Warum der Notarzt?«, fragte Clara. »Hat der Mann sich verletzt?«
Der Kriminaltechniker verzog gequält das Gesicht. »Als er das hier gesehen hat, ist er autoaggressiv geworden. Hat sich den Kopf an der Tischplatte aufgeschlagen, wahrscheinlich, um die Bilder loszuwerden, die ihm vor Augen standen. So was kommt öfters vor. Ich habe ihn kurz gesehen. Seine Stirn war nur noch blutiges Fleisch. Er hat den Kopf mit solcher Wucht auf die Platte geschlagen, dass sich im linken Auge Teile der Netzhaut abgelöst haben. Hoffen wir, dass die Ärzte und Psychologen ihn wieder hinkriegen.«
Clara nickte. Einer der Kollateralschäden des Schreckens. Es traf nicht nur die
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