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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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gerade so? , fragte sich Clara, während die Einsatzwagen am Willy-Brand-Haus vorbeirasten, Richtung Kochstraße, um dann rechts in die Friedrichstraße abzubiegen. Sie würde nachher mit Martin Friedrich darüber sprechen, dem Leiter der operativen Fallanalyse beim LKA. Von Weinstein hatte ihm die Unterlagen und Fotos von seinem Laptop am Tatort aus bereits als pdf-Datei geschickt.
    Warum diese bestialische Grausamkeit?
    Es gab Standardbegründungen. Clara kannte sie alle, aber sie fürchtete, dass sie ihr in diesem Fall nicht weiterhalfen. Die meisten Täter wählen ihr Opfer aufgrund ihrer Furcht aus, sagten die Psychiater. Sie stechen Frauen Nadeln in die Brüste, weil ihre psychotische Mutter dem kleinen Jungen, der später ein Serienkiller werden würde, Nadeln in den Penis gestochen hatte. Warum? Weil der Junge und alles, was mit ihm zu tun hatte, unerwünscht war. Weil Mami lieber ein kleines Mädchen haben wollte. Und weshalb? Weil Papa sie in der Badewanne immer so komisch angefasst und sie gezwungen hatte, ihn ebenfalls irgendwo anzufassen.
    Doch so einfach war es hier mit Sicherheit nicht. Die Dimension war eine ganz andere. Aber was hatte der Killer hier getan? War es ein Ritualmord? Eine Pfählung? Hatte es irgendeine Bedeutung? Und wenn ja – warum?
    Und so grauenvoll die Tat war, so groß waren der Aufwand, die Vorbereitungen und die Notwendigkeit, dabei nicht gestört zu werden.
    Das alles war ziemlich rätselhaft.
    Clara fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf. Die Wunde, die dort gewesen war, war längst verheilt. Es war im Oktober gewesen, als sie in letzter Sekunde aus dem verfluchten Haus des Namenlosen geflohen war, bevor alles explodierte. Ein Stück Metall hatte sie am Hinterkopf erwischt. Sie hatte es erst Stunden später im Revier gemerkt, als sie spürte, dass irgendetwas Warmes, Feuchtes ihren Hinterkopf und Nacken hinunterlief und ihre Bluse rot färbte. Adrenalin kann wie ein Schmerzmittel wirken, und so war es auch damals gewesen. Doch die Narbe war noch da. Clara konnte sie fühlen. Narben konnten eine gute Sache sein. Sie erzogen einen zur Demut und zeigten einem, dass die Vergangenheit einst Realität war. Zugleich gaben sie Hoffnung, denn auch wenn Narben ein Zeichen früherer Verletzungen waren, so waren sie zugleich ein Zeichen der Heilung.
    »Welche Narben hast du, dass du so etwas fertigbringst?«, murmelte Clara, als sie wieder an den Killer dachte.
    »Haben Sie was gesagt?«
    Clara zuckte zusammen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie laut gesprochen hatte. Sie sah die Augen des Fahrers im Innenspiegel. Er war einer der Einsatzbeamten, mit denen sie zum Tatort fuhr.
    »Nichts weiter. Hab nur laut gedacht.«
    Der Fahrer nickte, zuckte die Schultern. Clara schaute aus dem Fenster, als der Wagen in die Friedrichstraße einbog und das Quartier 101 sich in der Ferne zwischen den regenschweren Wolken erhob.
    Laut gedacht. Manchmal redete Clara leise mit sich selbst, wie manche ihrer Kollegen auch. Es tat gut, wenn man außer den Stimmen der Toten und Ermordeten auch mal die eigene Stimme im Kopf hörte. Es war kein Zeichen von Verrücktheit, mit sich selbst zu reden, im Gegenteil: Es konnte einen davor bewahren, verrückt zu werden.
    Der Wagen hielt.
    »Wir sind da«, sagte der Fahrer.
    Als Clara die Tür öffnete und die regennasse Fassade hinaufblickte, überkam sie noch einmal das seltsame Gefühl schwarzer, klebriger Verzweiflung, die man nicht abwaschen konnte. Sie wusste, dass hinter diesen Wänden das Grauen auf sie wartete. Nur drei oder vier Türen entfernt – drei oder vier Türen, die sie durchschreiten musste, um von der normalen Welt der Großstadt in eine Welt aus Angst, Schmerz und Tod zu gelangen.
*
    Vor dem Haupteingang des Quartier 101 hatten sich etwa ein Dutzend Reporter versammelt, mit Kameras und Scheinwerfern bewaffnet, die Clara Mikrofone unter die Nase hielten, während sie sich gemeinsam mit den vier Polizisten an der Presse vorbei ins Innere des Gebäudes vorarbeitete. Vier weitere Einsatzleute hatten am Eingang Stellung bezogen und hielten jeden fern, der nichts mit den Ermittlungen zu tun hatte. Zwei Pressevertreter beschwerten sich lauthals, dass hier die Arbeit der Medien behindert werde, was die vier Beamten aber nicht davon abhielt, genau das weiterhin zu tun.
    »Aasgeier«, schimpfte einer der Polizisten, »haben mal wieder den Polizeifunk abgehört.«
    Der Fahrstuhl bewegte sich mit quälender Langsamkeit nach oben.
    Einer der Polizisten,

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