Seelenangst
waren, ähnlich wie bei von Weinstein. Aber vielleicht boten sie ihm einfach nur die Möglichkeit, all das Grauen, das er seit Jahrzehnten zu sehen bekam, ein bisschen besser ertragen zu können.
»Der Spruch kommt aus der Bibel«, sagte Clara. »Neues Testament. Markusevangelium, Kapitel fünf, Vers neun.«
»Okay, ein bisschen früh für die Zeugen Jehovas«, sagte Winterfeld, während er das Fenster wieder schloss. »Und worum geht es da?«
»Jesus treibt bei einem Besessenen einen unreinen Geist aus«, antwortete Clara. »Ich habe gelesen, dass bei jeder Dämonenaustreibung der Exorzist den Namen des Dämons erfragen muss. Jesus tut das auch.«
»Und was antwortet der Dämon?«
»Was hier an der Wand stand«, sagte Clara. »Mein Name ist Legion. Tausende gibt es von mir.«
Winterfeld atmete hörbar aus. »Ich will nur hoffen, dass es von diesem Irren nicht auch Tausende gibt.«
Sein Handy klingelte.
»Winterfeld … Ja … Klingt nicht gut. In Ordnung, können wir gleich vor Ort besprechen … Alles klar, wir sind in zwanzig Minuten da.« Er klappte das Handy zu.
Clara blickte ihn fragend an. »Was gibt’s?«
»Von Weinstein. Sie sind mit der Leiche fertig. Wir können vorbeikommen. Er hat zwei Nachrichten. Eine schlechte«, er lächelte gequält, »und eine schlechte.«
Clara zuckte die Schultern. »Die schlechte zuerst.«
»Der Tote ist Franco Gayo.« Winterfeld kniff die Lippen zusammen. »Das bedeutet schon mal Medienrummel.«
»Na super«, sagte Clara. »Wie haben sie Gayos Identität festgestellt?«
»Abgleich des Zahnstatus mit den zahnärztlichen Unterlagen.«
»Was noch?«
»Der Mörder ist nicht nur pervers, er scheint auch sehr intelligent zu sein.« Winterfeld steuerte sein Büro an. »Kommen Sie mit, Señora? Nach Moabit?«
Clara nickte.
»Dann fahren wir zusammen«, sagte er. »Treffpunkt in einer Minute hier, vale?«
»Vale« , sagte Clara.
Während Winterfeld mit schweren Schritten in sein Büro eilte, blickte sie noch einmal aus dem Fenster auf die Regentropfen, die draußen vor dem Fenster aufblitzten. Hunderte. Tausende.
Mein Name ist Legion, hallte es in ihrem Kopf, Tausende gibt es von mir.
17
In Moabit waren sie bereits mit der Obduktion fertig. Die grellen Neonleuchten, die von der Decke schienen, waren die hellsten, die es auf dem Markt gab. Clara mochte diese Räume nicht. Vor allem hasste sie den penetranten, furchtbaren Geruch der Toten, an dem auch die auf Hochtouren summende Absauganlage nichts ändern konnte. Fünf Minuten konnte man sich hier aufhalten, dann musste man raus, weil sonst die Kleidung süßlich nach Tod stank.
Die Sektion war gerade abgeschlossen. Einer der Assistenten war noch mit Nadel und Faden zugange und brachte die Leiche wieder in einen Zustand, in dem man sie Angehörigen vorzeigen konnte.
Als Clara vor der Leiche Franco Gayos stand, sah diese fast wieder normal aus, sah man von den Einschnitten ab, die durch die Haut hindurch aufblitzten, und den Stellen, wo die Rechtsmediziner Bauch-und Brusthöhle geöffnet, die Kopfhaut aufgeschnitten und den Schädel aufgesägt hatten, um das Gehirn zu entnehmen. Paragraph 89 der Strafprozessordnung schrieb vor, dass bei einer Obduktion alle drei Körperhöhlen zu öffnen seien – Bauchhöhle, Brusthöhle und Kopfhöhle. Was viele nicht wussten: Nach der Obduktion verschwanden sämtliche Organe, auch das Gehirn, in der Bauchhöhle, die dann zugenäht wurde, sodass der oder die Tote am Ende erträglich aussah. Würde man das Gehirn zurück in die Schädelhöhle legen, könnte verflüssigtes Hirngewebe heraustropfen, was insbesondere dann befremdlich aussah, wenn die Leiche noch irgendwo aufgebahrt wurde. Stattdessen wurde Zellstoff im Wasserbad angefeuchtet und in die Schädelhöhle gestopft, ehe auch dort alles wieder zugenäht wurde.
Vorher war die Leiche durch den sogenannten Leichenscanner gefahren worden, ein sündhaft teurer Computertomograf, auch CT genannt, der erst seit ein paar Monaten im rechtsmedizinischen Institut stand und der den Körper digital in mehr als 7500 Bilder zerschneiden konnte. Der Scan half bereits vor der Obduktion, selbst kleinste Unregelmäßigkeiten und Veränderungen zu erkennen. Von Weinstein und seine Kollegen hatten an diesem Gerät schon mehr als 300 Leichen gescannt.
Auf einem Bildschirm blitzten nun computergenerierte, schwarz-weiße 3-D-Aufnahmen von Gayos Körper. Deutlich war die Klinge zu sehen, die sich wie der Stachel einer monströsen Wespe durch
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