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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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an Katatonie, wie der Krankenakte zu entnehmen war, einer Störung der Psychomotorik, was sich in Erstarrungszuständen äußerte, dem sogenannten Mutismus: Die Menschen verharrten plötzlich in einer bestimmten Körperhaltung und konnten oft nicht mehr sprechen. Lukas hatte des Öfteren Albträume von ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, die sich besonders auf die zweite Nachthälfte konzentrierten. Es war das einzige Mal, dass man seine Stimme hörte. Weil er schrie. Und schrie. Und dann, ganz plötzlich, wieder still wurde, als hätte jemand einen Stecker gezogen.
    Im Heim hatten sie seinen IQ nicht feststellen können, da er sich geweigert hatte, die Fragebögen auszufüllen, aber das musste nicht bedeuten, dass sein IQ nicht deutlich über 80 lag. Auch sonst gab es keine Anzeichen geistiger Behinderung, und nichts deutete auf irgendein Syndrom hin, was eine geistige Retardierung erklären würde.
    Nein, was Lukas zu dem gemacht hatte, was er jetzt war, musste traumatischer Natur gewesen sein – schlimmer, als man es sich vorstellen konnte und wollte.
    Der Verein, der das Heim betrieb, in dem Lukas untergebracht war, gehörte zu einer der neueren Initiativen der Stadt. Clara wusste, dass der Senat bei allem, was mit Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung zu tun hat, nicht untätig erscheinen wollte; deshalb hatte das LKA die Aussagen der Schwester sofort zu Protokoll genommen.
    Gleichzeitig hatte die IT den Stick flüchtig durchgeschaut und Hunderte von Megabytes mit Grafiken, Fotos, pdf- und Word-Dokumenten gefunden. Bereits im Heim hatten sie kurz in den Stick geschaut, mit dem Inhalt aber nicht allzu viel anfangen können. Sie sagten nur, es habe ihnen »Angst gemacht«.
    Clara überflog das Protokoll und Lukas’ Akte aus dem Kinderheim. Vor ein paar Monaten hatte die Polizei den Mann gefasst, der den Jungen gefangen gehalten hatte. Es schien ihm völlig gleichgültig gewesen zu sein. »Ihr könnt ihn haben« , hatte er gesagt – in einem Ton, mit dem ein Rockstar seine Geliebte auf die Straße setzt oder eine Familie ein paar ungeliebte Katzenkinder weggibt.
    »Eigentlich wollte ich einen Hund«, hatte der Mann gesagt, als er mit Handschellen im Streifenwagen saß. Die Schwester, der Lukas den USB-Stick gegeben hatte, war damals dabei gewesen. »Also habe ich ihn zu meinem Hund gemacht. Hunde verstehen Prügel. Menschen verstehen Prügel.« Der Mann hatte die Polizisten beinahe Verständnis suchend angeschaut, doch in deren Gesichtern hatten sich nur Wut und Abscheu gespiegelt.
    »Ich habe ihn dressiert, dass er nur nachts draußen an den Baum pinkelt, mit erhobenem Bein«, hatte der Mann lachend weitererzählt. »Und Hundefutter habe ich ihm gegeben.« Er hatte genickt, während er sprach. »Irgendwann hat er das Zeug sogar gemocht. Er hat …« Der Mann hatte nach Worten gesucht. »Er hat gesabbert, wenn er das Rascheln der Futtertüte hörte, und kam auf allen vieren angelaufen. Und manchmal …«, das Lachen des Mannes wurde schriller, »manchmal ist er schon gekommen, wenn ich nur mit Zeitungspapier geraschelt habe.«
    Aber das war längst nicht alles, was der Mann mit Lukas angestellt hatte. Da waren noch andere Dinge gewesen. Lukas hatte sie monatelang, jahrelang erleiden müssen. Der Mann war ins Gefängnis gekommen. Genauso wie Lukas. Nur dass Lukas’ Gefängnis noch dunkler, hoffnungsloser und besser bewacht war. Es war das Gefängnis seines Verstandes. Ein Gefängnis aus seinen Erinnerungen.
    Clara schaute in die Augen des Kindes, diese dunklen und traurigen Augen, die so viel zeigten und noch mehr verbargen. Lukas erwiderte ihren Blick. Dann senkte er abrupt den Kopf und drehte sich ruckartig zum Fenster um.
    Am härtesten trifft es immer die unschuldigen Kinder , dachte Clara. Ob sie wollte oder nicht, sie musste dabei an ihre ermordete Schwester Claudia denken.
    Unweigerlich kam ihr ein Gedicht von John Donne in den Sinn, das vielleicht ein klein wenig dazu beigetragen hatte, dass sie Polizistin geworden war. Es besagte, dass jeder Tod eines Anderen in gewisser Weise auch der eigene Tod war.
    Niemand ist eine Insel ganz für sich; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlands.
    Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit.
    Darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.
    Einer der Phantomzeichner kam ins Zimmer und riss Clara aus ihren Gedanken.
    »Wir sind so weit«, sagte er.
    »Dann los. Schauen wir mal, ob ihr was

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